Es ist eines der unromantischsten Bücher, die je über die Liebe geschrieben wurden. Mit Kapiteln wie „Wurzelbehandlung“ und „Beziehungsvertrag“. Aber gerade deshalb ist das neue Buch „Lebenskompliz*innen“ von Aktivist Nils Pickert lesenswert.
Von: Joschka Moravek
Stand: 10.03.2022
Vor zehn Jahren spazierte Nils Pickert mit seinem kleinen Sohn durch eine Fußgängerzone in Süddeutschland. Der Sohn trägt ein rotes Kleid und Pickert einen wadenlangen Rock. Ein Foto davon ging um die Welt. Sein Sohn war in der Kita ausgelacht worden, weil er ein Kleid trug, also wollte Pickert mit ihm gemeinsam Rollenklischees aufbrechen
Das will Pickert auch in seinem neuen Buch. Der Autor, der sich bei der feministischen Initiative „Pinkstinks“ engagiert, widmet sich darin der Liebe. Warum? „Ich habe einen sehr persönlichen Beef, einen Konflikt mit der romantischen Liebe“, sagt Pickert im Interview. „Weil ich Paare kenne, die an diesen Vorgaben gescheitert sind.“ Das romantische Idealbild werfe ihnen Knüppel zwischen die Beine. Als Beispiel nennt er den Song „Sk8er Boi“ von Avril Lavigne:
"He was a boy/ She was a girl/ Can I make it any more obvious?/ He was a punk/ She did ballet/ What more can I say?"
Ein Junge, der skatet, trifft ein Mädchen, das Ballett tanzt. Diese Songzeilen stehen für Pickert sinnbildlich für die Rollenmuster, in denen wir festhängen: Geschlechterklischees, Valentinstag und kitschiger Kapitalismus. All das habe wenig mit der Realität zu tun. Pickert kritisert: „Die romantische Liebe weiß nichts über Fehlgeburten, Hämorrhoiden, einflussreiche Verwandte oder Mundgeruchsküsse im Morgengrauen. Nichts über Libidoverlust, Panikattacken, schreiende Kinder und Umzugsstress.“ Auch Kotzeritis kenne die romantische Liebe nicht. „Ehrlich gesagt, ist romantische Liebe ganz schön lieblos.“
So sieht der Gegenentwurf aus
Pickert entwickelt in seinem Buch deshalb einen Gegenentwurf: das Konzept von gleichberechtigter Liebe. Klingt nicht sexy, ist es auf den ersten Blick auch nicht und will es gar nicht sein, sondern, wie er selbst in seinem „lieblosen Vorwort“ schreibt:
"Dieses Buch wird unfreundlich zu Ihren Liebeskonzepten sein, aber sehr nett zu Ihnen. Es wird Preisschilder an Dinge und Tätigkeiten hängen, die man doch eigentlich nicht bewerten sollte, weil sie aus Liebe geschehen. Es wird sich in all die kleinen und großen Ungerechtigkeiten verbeißen, über die Liebe eigentlich drüberstehen und uns erheben sollte – die aber in Wahrheit die Gründe dafür sind, dass wir ins Straucheln geraten und unsere Liebe zerfällt. Wir brauchen endlich Gewissheit."
Das ist es, was Nils Pickert seinen Leser*innen anbietet: schonungslose Worte, aber freundlichen Umgang. In neun Kapiteln geht es um Liebe, Sex und Elternsein. Mit so unromantischen Kapiteln wie „Wurzelbehandlung“ oder „Beziehungsvertrag“. Ja, richtig gehört: „Vertrag“. Spätestens hier merkt man, dass Pickert Politik studiert hat. Denn auf einmal fühlt man sich, als sitze man in einer Vorlesung im ersten Semester fest.
Ungewöhnliches Liebesvokabular
Er beruft sich nämlich dabei – Achtung – auf die Gesellschaftsvertragstheorie von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und John Locke. Letztendlich meint er damit: Wir sollten miteinander vereinbaren, wie wir uns eine Beziehung vorstellen. Das ist komplex, anstrengend und ein ständiger Aushandlungsprozess. Für Pickert geht das nur mit den vier Ws: Wohlwollen, Wahrhaftigkeit, Wissbegier und Wandelbarkeit. Sie bilden die Pfeiler seiner Definition von Liebe.
Wie er Liebe definiert? „Boah, das ist die Frage, über die ich am längsten nachgedacht habe“, sagt er im Interview. „Deswegen habe ich mir diesen einen Satz provisorisch zurechtgelegt: Liebe ist das Bedürfnis und das Handeln, sich in einer anderen Person zu beheimaten.“
In „Lebenskompliz*innen“ kann man Pickert beim Ausbreiten seiner Gedanken zuschauen. Mal schreibt er dabei von sich in der dritten Person. Immer wieder reflektiert und hinterfragt er die Vorzüge und Nachteile von gleichberechtigter Liebe. Das ist bei so viel ungewöhnlichem Liebesvokabular auch nötig, damit man ihm folgen und verstehen kann, was er wirklich meint: Nils Pickert will, dass wir unsere Liebeskonzepte umkrempeln. Er ist der Staatsanwalt, der die romantische Liebe anklagt – und der Anwalt, der die gleichberechtigte Liebe verteidigt.
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