Mit einem altmodischen Damenfahrrad kommt sie auf dem Gehweg angefahren. Sie sieht kleiner aus, als man sie von Konzerten kennt, aber vielleicht liegt das auch an den großen Rädern ihres Fahrrads.
Irgendwie sticht sie hervor aus all den anderen Menschen auf der Stargader Straße in Prenzlauer Berg. Fast scheint es, als käme da Amelie angefahren aus ihrer wunderbaren Welt, und der Vergleich ist gar nicht mal so falsch, einmal abgesehen davon, daß Alina Pogostkina, wenn sie nach dem Gemüseeinkauf nach Hause kommt, nicht nur Fotos sortiert und vom Gemüsemann träumt, sondern auch Geige spielt, jeden Tag zwei Stunden, auf Weltniveau.
Vor kurzem hat sie in Helsinki als erste Deutsche den Jean-Sibelius-Wettbewerb gewonnen, einen der wichtigsten Wettbewerbe, die es für Nachwuchsgeiger gibt. Jetzt sitzt sie im Café „Meersalz" und freut sich über ihren rot-weiß in der Sonne glitzernden Erdbeerjoghurt.
Mit acht Jahren ist Alina mit ihren Eltern von Rußland nach Deutschland gekommen, und da die Musikerfamilie - auch die Eltern sind Berufsmusiker - weder irgend jemanden kannte noch ein Wort Deutsch sprach, mußte sie sich ihr Geld zunächst mit Straßenmusik verdienen. Das war in Heidelberg, der Wiege der deutschen Romantik, und auch wenn es für das russische Familientrio zu Beginn ganz unromantisch hart war, war es vielleicht doch ganz gut, daß sie ihr Glück nicht im U-Bahnhof Heidelberger Platz in Berlin-Wilmersdorf versuchten, dessen Talenten, trotz Heerscharen vorbeiziehender Studenten, nicht mehr viel Hoffnung ins Gesicht geschrieben steht.
In Heidelberg faßten die drei nach ein paar Monaten Fuß und lernten Menschen kennen, die ihnen dabei halfen, kleine Konzerte zu organisieren und in Kirchen zu spielen. Wobei es aber nicht bleiben sollte, denn der Vater hatte Großes vor mit der Tochter. Kaum war sie aus dem Grundschulalter heraus, mußte Alina ihr Glück bei Violinwettbewerben versuchen. Wettbewerbe, die sie, wie sie sagt, immer verabscheut hat: „Für mich hat das wenig mit Musik zu tun, das ist eher Sport." Bei denen sie aber abräumte, daß der Konkurrenz angst und bange werden mußte. Mit dreizehn gewann sie als jüngste Teilnehmerin den internationalen Louis-Spohr-Wettbewerb in Freiburg, ein Jahr später holte sie den ersten Preis beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert". Mit fünfzehn folgte, erneut als jüngste Teilnehmerin, der sechste Preis beim renommierten Pariser Long-Thibaud-Wettbewerb. Doch brach in Paris, wegen dieses nur sechsten Platzes, für sie eine Welt zusammen. „Ich dachte, ich kann nicht mehr Geige spielen!"
Der Traum fast geplatzt
Sie mußte eine Verschnaufpause einlegen. Denn obwohl ihr Talent offensichtlich war und Weltklassegeiger wie Yehudi Menuhin, Itzhak Perlman und Anne-Sophie Mutter ihr eine große Zukunft voraussagten, fand Alina: „Ohne einen ersten Platz bei einem der großen Wettbewerbe bringt das alles nichts." Und so kam es, daß trotz allen Talents und familiärer Anstrengungen der Sibelius-Wettbewerb ihr Schicksal fast in eine ganz andere Richtung gelenkt hätte, daß der Traum von der Solokarriere fast noch geplatzt wäre: „Für mich war das meine letzte Chance. Ich habe gesagt, wenn es diesmal nicht klappt, dann reicht es!"
Nun hat sie gewonnen und den Preis für die beste Interpretation des Sibelius-Violinkonzerts gleich noch dazu. Es ist das Konzert, das schon als Kind ihr Lieblingsstück war. „Wenn jemand dieses Konzert so sehr liebt wie ich, dann muß er es einfach am besten spielen!" beschloß sie früh. „Eines Tages spiele ich das Konzert am allerallerschönsten und werde berühmt dafür."
Es gibt wahrscheinlich kein musizierendes Kind, das, wenn es sein Instrument auch nur ein bißchen liebt, nicht ähnliches träumt. Bei Alina Pogostkina ist dieser Kindheitstraum wahr geworden. Und es scheint, als sei sie noch gar nicht ganz aus ihm erwacht, so kindlich und glückstrunken ist ihre Freude darüber.
Perfektion ist keine Kunst
Wer hätte das gedacht, wo sie doch auf der Bühne stets so souverän und so erhaben wirkt, wo sie nicht nur spieltechnisch brilliert, sondern darüber hinaus ihre kompromißlose Leidenschaft und unbedingte Liebe zur Musik mit soviel Würde und Anmut vorzutragen weiß, daß man winzigen Trägheiten in den Tempi, dem teils vielleicht etwas beharrlichen Vibrato schon dankbar ist für die Distanz, die man dadurch wieder gewinnt. Alina Pogostkina lullt einen ein mit ihrem Spiel, sie verzaubert. Im blauen Abendkleid, mit viel Spannung in der Haltung ihres Körpers, wirkt diese Frau mit etwas Phantasie wie eine Fee mit Geige.
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