Ihr Vater ist schon tot, da erfährt Barbara, dass er Jude war. Ein Leben lang hatte er geschwiegen. Mike Chick trifft Barbara auf einer Reise nach Stettin. Sie erzählt ihm von „Tanten und Großtanten, die während des Krieges ermordet wurden". In ihrer Wohnung fotografiert Chick die Wand, an der einst die Familienbilder hingen. Nur eins ist dort verblieben: das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Vergilbte Stellen in der Tapete deuten auf Aufnahmen, die nicht mehr da sind. So wie „die verlorenen Mitglieder der Familie", sagt er.
Mike Chicks Fotografie zeigt, wie man das Unsichtbare sichtbar macht. Seine Oder-Neiße-Serie ist derzeit in der Galerie im Tempelhof Museum zu sehen. Animiert hat ihn dazu die Herkunft seiner eigenen Familie: Der Urgroßvater stammt aus Stettin. Chick, Sohn eines Briten und einer Berlinerin, reiste drei Jahre lang in das deutsch-polnische Grenzgebiet. Als Engländer sei es für ihn nicht vorstellbar, „dass Grenzen sich so krass ändern können".
Manchmal folgt er konkreten Ideen, manchmal findet der Zufall die Motive. Stets jedoch ist er auf der Suche nach den Folgen der Geschichte und den Zeichen einer verlorenen Zeit. Sei es in einer Landschaft, an einem Ort oder auf einem Gesicht.
Chick hat ein Auge für das Abseitige und UngeseheneOft sind es Abwesenheiten, die seine Bilder zeigen. Etwa wenn er den Ort der ehemaligen Stettiner Synagoge fotografiert und man nur eine Backsteinmauer mit schneebedeckten Sträuchern sieht. Oder eine Ansicht in Niederschlesien: Da stehen ein Mann und eine Frau wie zwei Wanderer über dem Braunkohlemeer und blicken in die Einöde des Tagebaus Turów, in der das 600 Jahre alte Reibersdorf verschwand.
Chick hat ein Auge für das Abseitige und Ungesehene. Er befragt die Zeugen der Geschichte und bringt ihre Orte zum Sprechen. In der Ausstellung sieht man eine zerbombte Brücke, eine verödete Werft, eine leere Theaterbühne. Das Schauspiel der Geschichte spiegelt sich hier in den vermeintlich belanglosen Dingen. Es ist eine andächtige Fotografie, in die sich der Betrachter versenken kann. Im Zeitalter von Instagram sei die dafür nötige Geduld nicht selbstverständlich, sagt er im Gespräch. „Es ist ein Luxus, als Künstler zu erwarten, dass ein Zuschauer über ein Bild nachdenkt."