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Visionen, Wünsche und Bürokratie

"Ob du willst, oder nicht willst, ich bin jetzt hier und es wäre schön, wenn du mich akzeptierst", sagt Hasib Azizi. Er ist 2015 aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Seitdem ist er nicht nur mit plumpem Rassismus, deutscher Bürokratie und einer völlig neuen Kultur konfrontiert. Es werde auch viel häufiger über ihn und nicht mehr mit ihm gesprochen. Genau da setzt der Film "Wir sind jetzt hier", des Ehepaars Nicklas Schenk und Ronja von Wurmb-Seibel an, der am Samstag bei der langen Nacht der Demokratie im Puchheimer Rathaus gezeigt worden ist.

Im Film werden sieben junge Männer vorgestellt, die aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea und dem Irak nach Deutschland gekommen sind. Sie sprechen direkt in die Kamera und beantworten Fragen wie etwa: "Wie geht es dir wirklich?", "Wie ist es für dich hier zu leben, während deine Familie in der Heimat bleiben muss?". "Ein Taliban ist zwischen meinem Haus und der Schule", sagt Azim Fakhri aus Afghanistan. "Kann ich meine Familie wiedersehen? Ein Teil deines Lebens, deines Körpers bleibt irgendwo. Und dann ist deine Familie in Gefahr. Und du sitzt in der Klasse und du lernst Dativ und Akkusativ", ergänzt er. Sprache, Arbeitskultur und Bürokratie sind Herausforderungen, die den Geflüchteten besonders zu schaffen machen. Letzteres habe vor allem beim Kampf um eine Aufenthaltsgenehmigung für Schwierigkeiten gesorgt. "Ich habe jeden Tag meine Post mit der ganzen Werbung durchgewühlt, wegen dem Abschiebungsbrief", erzählt Azim Fakhri. Die Zukunft der Geflüchteten in Deutschland sei von diesem Brief abhängig gewesen. "Ich wusste nicht, ob ich jetzt überhaupt weiter zur Schule gehen kann", sagt Hasib Azizi.

"Es ist tragisch, dass so ein Stück Papier, so viel lenken kann", bemerkt Bürgermeister Norbert Seidl nach Ende des Films. Er empfinde ihn als "sehr inspirierend und berührend". Und auch die übrigen Besucher zeigen sich in der anschließenden Diskussion von den Schicksalen der Männer bewegt. Zum Abschluss des Abends wird dann Azim Fakhri, einer der Protagonisten, online zugeschaltet, um mit den Anwesenden zu diskutieren. Der afghanische Informatiker und Künstler flüchtete 2015 nach Frankfurt. Allerdings ohne seine Frau und seine Kinder. Erst nach drei Jahren konnte er sie wieder in die Arme schließen. Jetzt ist Fakhri Fachinformatiker und arbeitet nebenher an seiner Kunst. "Inspiriert hat mich vor allem Banksy - wir haben uns bisher nur noch nicht getroffen", witzelt Fakhri.

Auch der Gröbenzeller Bürgermeister Martin Schäfer hat sich am Samstagabend zusammen mit 114 Bürgerinnen und Bürgern im neuen Rathaus mit dem Thema Demokratie auseinandergesetzt. Zu Gast war außerdem Pal Yogendra, aus dem indischen Konsulat in München, jenem Land, das als größte Demokratie der Welt gilt. Auf dem Programm stand außerdem ein Workshop mit der Künstlerin Andrea Dietz, zum Thema Reflexion. "Was brauchen wir, um friedlich zusammen leben zu können?", lautet eine der Fragen. Dafür wählen die Anwesenden einen Fotoschnipsel von einem Tisch, der ihnen besonders zusagt. Anschließend kleben sie diesen auf eine rote, goldene oder schwarze Karte. "Die goldene Karte steht für die goldenen Visionen, also Wünsche. Eine rote Karte steht für Herzensangelegenheiten. Und die schwarze Karte steht für kritische Betrachtungen", so Dietz.

"Gleiche Zukunftschancen für alle", steht auf einer der goldenen Karten. Die fertigen Botschaften, werden dann auf einem farblich passenden Fahnenteil befestigt und vor das Rathaus gehängt. "Natürlich sieht man nicht mehr jede einzelne Karte, wenn die große Fahne hängt - aber es geht um die Energie, die sie aussendet", so die Künstlerin. Der Workshop passe deshalb so gut zu Dietz, weil auch in ihrer Arbeit das Reflektieren im Fokus steht. "In meinen Kunstwerken geht es nicht um mich, sondern immer um den Menschen, um die Frage, was passiert mit mir?" Um dieser Frage nachgehen zu können, hängen im Rathaus verteilt verschiedene Spiegelobjekte und Texte der Künstlerin.

Auch im oberen Stockwerk steht so eine Text-Wand. Daneben ein kleiner Garten, mit Rasen, Zaun und Liegestühlen. Bürgermeister Schäfer lädt dort die Besucher zu Kurzgesprächen ein - für eine aktive Demokratie und eine kreative Mitgestaltung in der Gemeinde. Bei ihm sitzen Christine und Robert Stein. "Wir sind da, weil uns die Demokratie sehr wichtig ist", sagt Robert Stein. "Und außerdem wollten wir uns mal das neue Rathaus anschauen", ergänzt Christine Stein.

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