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Krise als Gestaltungschance

Oft werde nur über Flüchtlinge (hier auf Samos) berichtet und nicht mit ihnen gesprochen, kritisiert Ronja von Wurmb-Seibel.

"Wir brauchen große Krisen", sagt Filmemacherin Ronja von Wurmb-Seibel. Denn Krisen würden dazu führen, dass Leute zusammenhalten und etwas unternehmen. Gemeint ist die Klimakrise, die Flüchtlingskrise oder auch die Pandemie. Krisen, über die Bürgermeister Norbert Seidl am Montagabend in der Sankt Josef Kirche in Puchheim mit Referentin Eva-Maria Heerde-Hinojosa, Filmemacherin Ronja von Wurmb-Seibel und Asylhelfer Bernhard Harles sowie etwa einem Dutzend Gäste diskutiert. Dafür steigt Seidl mit der Frage ein: "Wo liegen die Hauptursachen der Flucht?" Für Wurmb-Seibel sind es Krieg, Gewalt und Diktaturen. Doch auch Klimaflüchtlinge und Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität flüchten, würden immer mehr werden, so die Filmemacherin. "Ja, ich glaube, dass wir am Anfang einer großen Fluchtbewegung stehen. Wenn wir nicht anfangen, an vielen Stellen zu schrauben, dann werden wir uns noch wundern. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen flüchten, wenn ihre Lebensgrundlagen wegbrechen. Egal ob wegen Krieg, Verfolgung, Diktaturen, Klima oder sexueller Orientierung", pflichtet Heerde-Hinojosa bei. Und an all diesen Dilemmata, seien die Menschen schuld - nur sie könnten deshalb auch etwas ändern.

Aber an welchen Stellen muss man überhaupt "schrauben", damit sich etwas verändert? Die Diskutanten nennen das Asylrecht als Problem. Denn das müsse laut Bernhard Harles weiter gefasst werden. "Wir haben 214 000 Geflüchtete, die nicht anerkannt sind und eigentlich ausreisen müssten. Sie wollen arbeiten, sich integrieren, aber das dürfen sie nicht", so Harles. Die deutsche Bürokratie stehe ihnen im Weg. "Das tut sie auch wenn es um den Familiennachzug geht", bemerkt Filmemacherin Wurmb-Seibel. Ein Protagonist ihres Films: "Wir sind jetzt hier", habe erst nach drei Jahren die Familie nach Deutschland holen können. "Wir müssen uns klarmachen, dass Bürokratie tötet, wenn sie keinen Spielraum lässt." Aus menschlicher Sicht sei das nicht nachvollziehbar und trotzdem müsse man sich erst durch einen Berg von Anträgen kämpfen und monate- vielleicht jahrelang warten, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten.

Eine weiteres Problem, neben dem Asylrecht und der damit verbundenen Bürokratie, seien der Egoismus und die Gleichgültigkeit der Menschen. Wurmb-Seibel zufolge hat unsere Gesellschaft viele Mechanismen, die dazu führen, dass die Menschen so egoistisch leben - die Flüchtlingskrise oder Klimakrise einfach ignorieren oder geschehen lassen, selbst nicht handeln. Es sei vor allem ein soziales Problem. "Sie sind selbst so mit dem eigenen Stress beschäftigt, dass sie gar keine Ressourcen mehr haben, sich um Dinge wie den Klimaschutz oder die Flüchtlingsdebatte zu kümmern", sagt die Regisseurin. Deshalb habe sie sich in ihrem Film ganz bewusst dafür entschieden, keine neuen Informationen zu liefern - was gegen den Egoismus hilft, sei der Kontakt. "Wir müssen Menschen sehen, die uns von ihren Erfahrungen erzählen", so die Regisseurin. Gerade in der Flüchtlingsdebatte reiche es nicht, die Geschichte eines Menschen zu hören, der dann repräsentativ für 800 000 Flüchtlinge stehe. "Nein, vielmehr braucht es zehn, 20, 30 Personen, die dann für so viele Menschen stehen", sagt Wurmb-Seibel. "Deswegen möchte ich mit dem Film die Möglichkeit geben, dass Flüchtlinge auch die erreichen, die vielleicht noch nicht in Kontakt mit ihnen gekommen sind", ergänzt sie.

Stellen Medien die Krisen falsch dar? Nein, das Problem in Deutschland sei, dass die Medien sehr weiß und konservativ seien. Printmedien hätten nur in acht Prozent ihrer Artikel, Flüchtlinge als Individuen dargestellt - sie hätten auch oft nicht selber sprechen dürfen. "Das ist dramatisch, weil wir viel weniger mitfühlen. Deshalb führt die Presse dazu, dass bestimmte Emotionen und Erfahrungen fehlen", sagt die Filmemacherin. Abschließend sind sich alle Redner einig: Die Krisen und Herausforderungen gehen alle etwas an, und nur "wenn wir an uns glauben und diese neue Chance nutzen, ist es ein Moment, in dem wir die Gesellschaft komplett neu gestalten können", sagt Ronja von Wurmb-Seibel.

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