Jessica Schober

Autorin, Reisende Reporterin, Referentin, München

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Reportage

REISE: Ich bin ein Teebeutel

In Frankreich ist man ganz verrückt nach Longe Côte – Wellenwandern. Nun gibt es die ersten Kurse an der Ostsee, in Hohwacht. Unsere Autorin hat sich reingehängt. Eigentlich soll das Wasser brusthoch stehen. Mir steht es bis zum Hals. Mit nur 1,59 Meter Körpergröße bringe ich nicht die Idealmaße für diese neue Küstensportart mit. Ich mache einen Ausfallschritt. Setzte das Paddel an, eine Welle klatscht mir ins Gesicht. Unter Wasser suchen meine Füße Halt auf dem sandigen Meeresboden. Ich hänge in den Wellen wie ein Teebeutel in einer Tasse Ostfriesenmischung.

Hier in Hohwacht, eine Autostunde von Kiel entfernt, wurde Ende Juni der erste Wasserwanderweg Deutschlands zertifiziert. "Blaue Wege" heißen die Strecken, an denen man den Strandspaziergang direkt ins Wasser verlegen kann. Ausgestattet mit Paddel und geschützt durch einen Neoprenanzug stakst man beim Wasserwandern durch die brusthohen Fluten. Der Name der aus Frankreich stammenden Sportart Longe Côte (sprich: Longsch Kott) bedeutet so viel wie "an der Küste entlang". Erfunden wurde sie 2005 von dem französischen Rudertrainer Thomas Wallyn, der nach neuen Bewegungsmöglichkeiten für seine Athleten suchte. Wahrscheinlich dachte er sich: Lassen wir doch einfach mal das Boot weg.


Inga Golde und Mikesch Groht sind die ersten ausgebildeten Longe-Côte-Trainer, die hier in Hohwacht sogenannte Seegänge anbieten. Normalerweise betreiben die beiden eine Stand-up-paddeling-Schule in Kiel. Dass man jetzt im Wasser flaniert, ist auch neu für sie. Groht musste sich erst mal ein paar Youtube-Videos angucken, um den Sport zu verstehen. Doch jetzt ist er restlos begeistert. Zunächst üben wir den Ausfallschritt an Land. Nach ein paar Trockenübungen startet unsere Polonaise im Neoprenanzug. Während wir bootlos ins Wasser gehen, ziehen die Strandgäste auf dem Trockenen die Reißverschlüsse ihrer Regenjacken hoch. Irritierte Blicke.

Ostsee Wanderurlaub im Meer

Allez!  |  © Schober


Mikesch Groht ist perfekt für den Job, eine französische Wassersportart zu vermitteln. Er sieht aus wie eine Mischung aus Surflehrer und Gérard Depardieu. Der Ostseewind bläst ihm die langen blonden Haare ins Gesicht. Er lacht scheppernd. Hinter seinem breiten Rücken wasserwandert es sich auch viel leichter. "Wenn sich eine Gruppe erst mal richtig eingepaddelt hat, dann perlt das hier richtig schön den Strand entlang", sagt Mikesch, und jeder seiner Vokale ist lang wie ein Atemzug.


Profis schaffen acht Kilometer in der Stunde. Wir nicht.

Die Rettungsschwimmer haben mich vorher gewarnt: Bei Windstärke zwei und einer Wellenhöhe von 40 Zentimetern werde ich heute zwar nicht kentern. Als jedoch kürzlich Trainer von der französischen Atlantikküste angerückt waren, um das Küstenstück zu zertifizieren, habe es ganz andere Wellen gegeben. Die Experten prüften den Strandabschnitt bei hartem Gegenwind. Sie wollten sicherstellen: Ist er durchgängig begehbar und flach abfallend? Wissen die neuen Instruktoren Mikesch und Inga, bis wohin sie gehen können? Erst als das geklärt war, verliehen sie dem Hohwachter Strand das Siegel "Blauer Weg".

Ostsee Wanderurlaub im Meer

Attaque!  |  © Schober


"Allez!", ist das Kommando, auf das sich unsere Kleingruppe in Bewegung setzt. Inga ruft "Attaque!", als sie das Paddel in die Wellen taucht. Nach etwa 20 Minuten im Wasser stellt sich jetzt tatsächlich ein Gemeinschaftsgefühl ein. Im Wasserschatten des Vordermanns läuft es sich viel leichter. Nach jeweils 15 Paddelzügen wechseln wir durch. Ich muss Wellenbrecher sein. Gischt spritzt mir ins Gesicht. Wer den Rhythmus gefunden hat, fühlt sich wie ein Wellenritter. In jedes Wellental einen Ausfallschritt, jeder Wellenberg wird entschlossen durchstochen. Wer nicht mehr kann, lässt das Paddel auf der Wasseroberfläche mitgleiten. Longe-Côte-Profis schaffen bis zu acht Kilometer in der Stunde. Wir heute sicher nicht. Im Gänsemarsch schreiten wir die Küste ab. Am Strand wäre das leichter. Die Spaziergänger beäugen uns wie einen Wal, der gegen das Stranden kämpft. Halb mitleidig, halb irritiert, scheinen ihre Blicken zu sagen: Warum machen die es sich so schwer? Warum laufen die nicht an Land?

Seit 2007 ist das Ganzkörpertraining in Frankreich unter Touristen und Einheimischen immer beliebter  geworden. Inzwischen gibt es mehr als 35 Küstenstandorte. Dabei ist Longe Côte mehr als Planscherei. Es soll auch unsportliche Menschen in Bewegung bringen: Dicke, die im Wasser ihr Gewicht nicht spüren. Alte, die an Land das Stürzen fürchten. Und Faule, die sonst bloß toter Mann zwischen den Wellen spielen würden. Wer mal eine Stunde Aquajogging mitgemacht hat, weiß, wie anstrengend es werden kann, dem Wasser Paroli zu bieten.


Die Erschöpfung kommt langsam, aber dann walzt sie einen platt wie eine riesige Welle. "Die Muskeln fühlen sich durchgearbeitet an. Das geht in die Tiefe", sagt Trainerin Inga, als wir den Hohwachter Strand wieder hochlaufen, durchgeknetet von den Wellen. Ich bin froh, nach eineinhalb Stunden Ziehzeit das Teebeutel-Gefühl wieder los zu sein. Und gelobe: Liebe Ostsee, ich werde keinen Widerstand mehr leisten.



http://www.zeit.de/reisen/2014-08/ostsee-longe-cote-hohwacht