REISE: Ich bin ein Teebeutel
Hier in Hohwacht, eine Autostunde von Kiel entfernt, wurde Ende Juni der erste Wasserwanderweg Deutschlands zertifiziert. "Blaue Wege" heißen die Strecken, an denen man den Strandspaziergang direkt ins Wasser verlegen kann. Ausgestattet mit Paddel und geschützt durch einen Neoprenanzug stakst man beim Wasserwandern durch die brusthohen Fluten. Der Name der aus Frankreich stammenden Sportart Longe Côte (sprich: Longsch Kott) bedeutet so viel wie "an der Küste entlang". Erfunden wurde sie 2005 von dem französischen Rudertrainer Thomas Wallyn, der nach neuen Bewegungsmöglichkeiten für seine Athleten suchte. Wahrscheinlich dachte er sich: Lassen wir doch einfach mal das Boot weg.
Inga Golde und Mikesch Groht sind die ersten ausgebildeten Longe-Côte-Trainer, die hier in Hohwacht sogenannte Seegänge anbieten. Normalerweise betreiben die beiden eine Stand-up-paddeling-Schule in Kiel. Dass man jetzt im Wasser flaniert, ist auch neu für sie. Groht musste sich erst mal ein paar Youtube-Videos angucken, um den Sport zu verstehen. Doch jetzt ist er restlos begeistert. Zunächst üben wir den Ausfallschritt an Land. Nach ein paar Trockenübungen startet unsere Polonaise im Neoprenanzug. Während wir bootlos ins Wasser gehen, ziehen die Strandgäste auf dem Trockenen die Reißverschlüsse ihrer Regenjacken hoch. Irritierte Blicke.

Allez! | © Schober
Mikesch Groht ist perfekt für den Job, eine französische Wassersportart zu vermitteln. Er sieht aus wie eine Mischung aus Surflehrer und Gérard Depardieu. Der Ostseewind bläst ihm die langen blonden Haare ins Gesicht. Er lacht scheppernd. Hinter seinem breiten Rücken wasserwandert es sich auch viel leichter. "Wenn sich eine Gruppe erst mal richtig eingepaddelt hat, dann perlt das hier richtig schön den Strand entlang", sagt Mikesch, und jeder seiner Vokale ist lang wie ein Atemzug.
Profis schaffen acht Kilometer in der Stunde. Wir nicht.
Die Rettungsschwimmer haben mich vorher gewarnt: Bei Windstärke zwei und einer Wellenhöhe von 40 Zentimetern werde ich heute zwar nicht kentern. Als jedoch kürzlich Trainer von der französischen Atlantikküste angerückt waren, um das Küstenstück zu zertifizieren, habe es ganz andere Wellen gegeben. Die Experten prüften den Strandabschnitt bei hartem Gegenwind. Sie wollten sicherstellen: Ist er durchgängig begehbar und flach abfallend? Wissen die neuen Instruktoren Mikesch und Inga, bis wohin sie gehen können? Erst als das geklärt war, verliehen sie dem Hohwachter Strand das Siegel "Blauer Weg".

Attaque! | © Schober
"Allez!", ist das Kommando, auf das sich unsere Kleingruppe in
Bewegung setzt. Inga ruft "Attaque!", als sie das Paddel in die Wellen
taucht. Nach etwa 20 Minuten im Wasser stellt sich jetzt tatsächlich ein
Gemeinschaftsgefühl ein. Im Wasserschatten des Vordermanns läuft es
sich viel leichter. Nach jeweils 15 Paddelzügen wechseln wir durch. Ich
muss Wellenbrecher sein. Gischt spritzt mir ins Gesicht. Wer den
Rhythmus gefunden hat, fühlt sich wie ein Wellenritter. In jedes
Wellental einen Ausfallschritt, jeder Wellenberg wird entschlossen
durchstochen. Wer nicht mehr kann, lässt das Paddel auf der
Wasseroberfläche mitgleiten. Longe-Côte-Profis schaffen bis zu acht
Kilometer in der Stunde. Wir heute sicher nicht. Im Gänsemarsch
schreiten wir die Küste ab. Am Strand wäre das leichter. Die
Spaziergänger beäugen uns wie einen Wal, der gegen das Stranden kämpft.
Halb mitleidig, halb irritiert, scheinen ihre Blicken zu sagen: Warum
machen die es sich so schwer? Warum laufen die nicht an Land?
Seit 2007 ist das Ganzkörpertraining in Frankreich unter Touristen und Einheimischen immer beliebter geworden. Inzwischen gibt es mehr als 35 Küstenstandorte. Dabei ist Longe Côte mehr als Planscherei. Es soll auch unsportliche Menschen in Bewegung bringen: Dicke, die im Wasser ihr Gewicht nicht spüren. Alte, die an Land das Stürzen fürchten. Und Faule, die sonst bloß toter Mann zwischen den Wellen spielen würden. Wer mal eine Stunde Aquajogging mitgemacht hat, weiß, wie anstrengend es werden kann, dem Wasser Paroli zu bieten.
Die Erschöpfung kommt langsam, aber dann walzt sie einen platt wie eine riesige Welle. "Die Muskeln fühlen sich durchgearbeitet an. Das geht in die Tiefe", sagt Trainerin Inga, als wir den Hohwachter Strand wieder hochlaufen, durchgeknetet von den Wellen. Ich bin froh, nach eineinhalb Stunden Ziehzeit das Teebeutel-Gefühl wieder los zu sein. Und gelobe: Liebe Ostsee, ich werde keinen Widerstand mehr leisten.
http://www.zeit.de/reisen/2014-08/ostsee-longe-cote-hohwacht