Wenn sich deutsche Medien mit Schweden befassen, verfallen sie oft in bekannte Muster. Gerade wenn es etwa um das Anwachsen des Rechtspopulismus oder um Auswüchse der Bandenkriminalität geht, darf der Vergleich mit „Bullerbü" nicht fehlen: „Aufruhr in Bullerbü", „Bomben in Bullerbü", „Was ist los in Bullerbü?", „Abschied von Bullerbü", lauten dann die Schlagzeilen. Das von Astrid Lindgren vermittelte Schwedengefühl aus der Kinderbuchreihe „Wir Kinder aus Bullerbü" dient deutschen Medienprofis so als eine Art Kontrastmittel zu den aktuellen schwedischen Verhältnissen.
Da schwingt Empörung mit: Was erlaubt sich die Realität in dem skandinavischen Land eigentlich, der deutschen Heile-Welt-Projektion auf Schweden zu widersprechen? Das stört die verklärende Betrachtung eines Landes, das scheinbar nicht mit einer so schrecklichen Vergangenheit belastet ist wie das eigene und in dem ein ländliches Heimatgefühl mit roten Häuschen gefeiert werden darf, ganz ohne Gefahr zu laufen, deswegen als „rechts" zu gelten.
Dabei bietet ausgerechnet „Bullerbü" einen gut geeigneten Einstieg in ein nur wenig kindgerechtes Schweden-Thema: Rassismus und Nationalismus sowie deren Ausschluss aus der kollektiven Wahrnehmung.
Lindgren und die RassistenDie aus drei Büchern bestehende „Bullerbü"-Reihe erschien in Deutschland in den 1950er Jahren und beschreibt die weitgehend harmonisch verlaufenden Alltagsabenteuer von Bauernkindern in der Region Småland. Sie sind die am stärksten autobiographischen Kinderbücher Lindgrens, hier hat sie, selbst auf einem Hof in Südschweden aufgewachsen, am meisten aus ihrem Erfahrungsschatz geschöpft. Lasse, der älteste Bruder der Ich-Erzählerin Lisa, gilt als Abbild von Lindgrens ebenfalls älterem Bruder Gunnar Ericsson, mit dem sie bis zu seinem Tod innig verbunden gewesen sein soll. Ericsson wirkte als Bauer, Künstler und Schriftsteller sowie als Politiker: Im Stockholmer Reichstag saß er von 1936 bis 1942 als Sprecher der Jugendorganisation des Bondeförbundet (Bauerverbands), der heutigen Zentrumspartei. Sie gilt mittlerweile als liberale Formation mit Wurzeln auf dem Land.
Damals war sie jedoch die rassistischste Partei Schwedens - übertroffen nur von marginalen Parteien, die offen den Nationalsozialismus und das Hakenkreuz übernommen hatten. Die Partei vertrat die Interessen der Landwirte und hatte mit Liberalität wenig im Sinn. Im Gegenteil: Ein Anliegen war dem Bondeförbundet nicht allein, dass der schwedische Boden gut bestellt wurde, sondern auch, dass das Blut der Bewohner „rein" blieb: „Als nationale Aufgabe steht die Bewahrung des schwedischen Volksstammes vor der Vermischung mit minderwertigen ausländischen Rasseelementen im Vordergrund sowie der Widerstand gegen die Einwanderung von unerwünschten Fremdlingen", heißt es im Parteiprogramm von 1933. Die Partei sah die Bauernschaft als erste Garde, die „das Volksmaterial" vor „degenerierten Einflüssen" schützen sollte. Bereits in den 1920er Jahren war der Bondeförbundet offen für Rassentheorien, analysieren der Ethnologe Ingvar Svanberg und der Historiker Mattias Tydén. Zu den Gründern der Partei im Jahre 1913 gehörte der Rassentheoretiker und Antisemit Elof Eriksson, der Kontakte mit nationalsozialistischen Größen wie Julius Streicher, dem Herausgeber des „Stürmer", pflegte.
Kind seiner ZeitDiese Strömung war Teil eines allgemeinen antimodernen Kurses in Schweden. Eine Rückkehr zu Nationalromantik und vergangenem Ruhm bestimmte vor dem Ersten Weltkrieg Literatur und bildende Kunst im Land. Der Bondeförbundet, der von 1936 bis 1945 mit den Sozialdemokraten koalierte, war somit Kind seiner (schwedischen) Zeit. Schließlich wurde 1921 in Uppsala das weltweit erste staatliche „Institut für Rassenbiologie" gegründet, das Maßnahmen zur Reinhaltung der „schwedischen Rasse" erließ.
Der persönlichen Einstellung von Astrid Lindgrens Bruder ist der Zentrumspolitiker Hakan Larsson nachgegangen. Er habe mit einem Zeitzeugen gesprochen, dem zufolge Ericsson sich gegen den Rassismus im Jugendverband ausgesprochen habe. Ansonsten galt Gunnar Ericsson als Verfechter einer stärkeren Zusammenarbeit der skandinavischen Staaten und als großer Finnlandfreund, zudem schrieb er in der Nachkriegszeit satirische Wikingergeschichten.
Begleitet wurde Gunnar Ericsson von seiner Schwester Astrid wohl auch zu Parteitreffen. Zumindest schreibt die heutige Zentrumspartei auf ihrer Webseite, die spätere Autorin habe bei den Weihnachtsfeiern in den 1940er Jahren mitgeholfen. Astrid Lindgren selbst schien den Nationalsozialismus seit Kriegsbeginn abzulehnen, jedenfalls bringt sie in ihren Tagebüchern von 1939 ihre Abneigung gegenüber Hitlers Kriegspolitik zum Ausdruck. Von Sommer 1940 bis Kriegsende erhielt sie dann Einblicke, die anderen Schweden vorenthalten blieben - sie arbeitete aufgrund ihrer Deutschkenntnisse für den schwedischen Nachrichtendienst in der Abteilung Briefzensur. Härter als über die Deutschen urteilte sie allerdings über die Russen, eine in Schweden verbreitete Einstellung: „Und dann glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens ‚Heil Hitler', als den Rest meines Lebens Russen bei uns zu haben."
Ob die spätere Kinderbuchautorin eine Meinung zur damaligen Rassentheorie hatte, ist unbekannt. Ihre Idee von der Eigenständigkeit des Kinderlebens übernahm sie allerdings von ihrem großen Vorbild Ellen Key, der bekannten schwedischen Kinderrechtlerin. Diese sprach sich zwar gegen die Prügelstrafe aus - pflegte gleichzeitig aber ein sozialdarwinistisches Menschenbild, befürwortete „Rassenselektion" und Euthanasie und propagierte eine Rückkehr zur heidnischen Tradition, in der nur der Stärkere überlebt.
Verdrängte TraditionenVon derlei Ideologie und auch von der Tradition der Deutschlandfreundlichkeit rückte man in Schweden nach Kriegsende ab. Das Land war im Krieg offiziell neutral geblieben, wirkte jedoch als wichtiger wirtschaftlicher Bündnispartner des nationalsozialistischen Deutschlands, das es über seine Erzbahn in Lappland und mit Kugellagern versorgte. Auch der Bondeförbundet strich 1946 die völkischen Passagen aus seinem Parteiprogramm. 1957 benannte er sich in Zentrumspartei um, in der Hoffnung, so eine größere Wählergruppe anzusprechen.
Bezeichnenderweise hat sich die Partei zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bislang nicht durchgerungen. Mehr noch: Sie transferiert ihr heutiges Selbstbild einfach in die Vergangenheit. Auf ihrer Webseite schreibt die Partei, der Bondeförbundet sei von Anfang an liberal gewesen: „Man verteidigte das Recht, sein eigenes Leben zu gestalten, unabhängig davon, wer man war oder wo man herkam. Dies sind die Werte, die sich heute bei uns finden", so die offizielle Parteigeschichte.
Annie Lööf, die heutige Parteivorsitzende, gilt nach den Spitzenleuten der Grünen als eine der politischen Persönlichkeiten, die sich am meisten für eine offene Ausländerpolitik einsetzt und sich dabei engagiert mit Jimmie Akesson, dem Chef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, streitet. Sie haut auch mal wütend mit der Faust auf den Tisch, wenn dieser etwa sagt, Einwanderer bekämen keinen Job, „da sie nicht zu Schweden passen".
Ob da das schlechte Gewissen über die vergangene Ausrichtung der Partei eine Rolle spielt und der Drang, diesmal wirklich auf der richtigen Seite zu sein, bleibt Spekulation. Die Schwedin Elisabeth Asbrink, Journalistin und Autorin mit jüdisch-ungarischen Wurzeln, attestiert den Schweden jedenfalls eine Neigung zum Verdrängen.
Asbrink hatte weitere NS-Verstrickungen von Ikea-Gründer Ingvar Kamprad aufgedeckt. Ihr ist rätselhaft, wie dieser nach dem Krieg ein freundschaftliches Verhältnis zum Nazi und Holocaustleugner Per Engdahl pflegen konnte, obwohl gleichzeitig Otto UIlman - ein Jude aus Wien, der dem Holocaust entronnen war - zu seinen engsten Vertrauten gehörte.
Als Asbrink ihr gefeiertes neues Werk „Wörter, die Schweden formten" kürzlich in Warschau vorstellte, meinte sie, dass die Schweden bei Trends immer die Ersten sein müssten und so das Vergangene rasch in den Hintergrund trete. So glaubten auch viele Schweden, dass Geschichten wie „Wir Kinder aus Bullerbü" und „Michel aus Lönneberga" Abbilder der damaligen Realität waren - und nicht etwa ein idealisierender Blick Lindgrens auf ihre Kindheit und die ihres Vaters.
Auch bei den derzeit mit den Grünen regierenden Sozialdemokraten gab es verschiedene „Trends", um Asbrinks Worte zu gebrauchen. Lange standen sie für eine offene Ausländerpolitik und verantworteten das Image von Schweden als „humanitärer Großmacht" - ein Erbe des 1986 ermordeten Ministerpräsidenten Olof Palme.
Das homogene VolksheimUnter sozialdemokratischer Regie wurden jedoch zwischen 1934 und 1976 auch über 63 000 schwedische Bürgerinnen und Bürger zwangssterilisiert, da sie durch „geistige Leistungsschwäche", „sexuelle Andersartigkeit" und sonstige Abweichungen nicht der Norm entsprochen hätten. Dabei arbeiteten die sozialdemokratischen Regierungen eng mit besagtem „Institut für Rassenbiologie" in Uppsala zusammen, das bis 1958 bestand.
Auch die Idee des „Volksheims", mit der der sozialdemokratische Ministerpräsident Per Albin Hansson ab 1932 Unternehmer und Arbeiter zusammenbringen wollte, stammte aus rechten Kreisen und betrachtete Staat und Volk als Organismus. Hanssons Nachfolger Tage Erlander, 1946 bis 1969 sozialdemokratischer Ministerpräsident, bezog sich noch 1965 auf diese Vorstellung: „Wir Schweden leben ja in einer vom Schicksal so unendlich begünstigteren Situation. Die Bevölkerung unseres Landes ist homogen, dies nicht nur vom Aspekt der Rasse her gesehen, sondern auch in vielen anderen Bereichen."
Erlanders vormaliger Verkehrsminister Olof Palme, der ihm 1969 im Amt nachfolgte, läutete dann eine „Trendwende" ein. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1965 hielt er eine berühmte Radioansprache, die sich von Erlander absetzen, die Haltung vieler Schweden aufbrechen - und die rechtliche wie mentale Öffnung des Landes für Asylsuchende aus der ganzen Welt vorbereiten sollte.
Darauf regte sich Widerspruch unter Schwedens Rechtsextremen. Sie gründeten 1978 schließlich eine zuerst lose strukturierte Organisation unter dem Namen „Schweden soll schwedisch bleiben".
Der Aufstieg der SchwedendemokratenAus ihr entstanden 1987 die Schwedendemokraten (SD), die sich in den 2000er Jahren zunehmend von ihren völkischen Wurzeln distanzierten, um breitere Akzeptanz zu erreichen. Aufgrund dieses Hintergrunds der Schwedendemokraten, die seit 2010 im Parlament vertreten sind, weigerten sich die etablierten Parteien lange, mit ihnen zu kooperieren, mieden aber auch deren Hauptsujet: Probleme mit der Integration. Somit fiel den Rechtspopulisten ein Meinungsmonopol bei einem wichtiger werdenden Thema zu. Gleichzeitig konnten sie den etablierten Parteien vorwerfen, die Sorgen der Schweden zu ignorieren, während man selbst Klartext spreche.
Mittlerweile jedoch unterscheiden sich die ausländerpolitischen Forderungen der oppositionellen Schwedendemokraten - Migration einschränken, kriminelle Asylsuchende schneller abschieben - kaum noch vom Programm zweier ebenfalls oppositioneller, bürgerlicher Parteien, den Moderaten und den kleineren Christdemokraten.
Nun zeichnen sich in der schwedischen Politik einschneidende Umbrüche ab: Schon im vergangenen Jahr lagen die SD in einigen Umfragen an erster Stelle vor den einst so starken Sozialdemokraten. Schon vor diesem Umfragehoch kollabierte die bisherige lagerübergreifende Ausgrenzungsstrategie. So zerbrach an der Frage über eine Beteiligung der SD an politischen Entscheidungen die „Allianz", das Bündnis aus vier bürgerlichen Parteien.
Die rot-grüne Minderheitsregierung unter Stefan Löfven verweigert sich den Schwedendemokraten nach wie vor und lud die Rechtspopulisten beispielsweise im Spätsommer 2019 nicht zur Erarbeitung eines parteiübergreifenden Plans zur Kriminalitätsbekämpfung ein.
Anders agieren Moderate und Christdemokraten. Sie unterstützten im November erstmals einen - erfolglosen - Misstrauensantrag der Schwedendemokraten gegen den sozialdemokratischen Justizminister Morgan Johansson. Derzeit senden die Parteichefs von Moderaten und Christdemokraten Signale aus, dass die Regierung eines „konservativen Blocks" durchaus möglich wäre - unter Tolerierung durch die Schwedendemokraten oder vielleicht sogar auch mit deren aktiver Beteiligung. Die beiden bürgerlichen Parteien, aber auch viele schwedische Wähler, scheinen verdrängen zu wollen, welchen radikalen Hintergrund die Schwedendemokraten haben.
Und diese nehmen gerne Bezug auf ein Schweden vor der Öffnung für Migranten. So erklärte SD-Parteichef Jimmie Akesson gegenüber der Boulevardzeitung „Expressen", dass er seinem Sohn täglich aus Astrid Lindgrens Kinderbüchern vorlese. Er preist sie als „nationalromantische" Schriftstellerin und ihr Werk als „Kulturerbe". Und er empfiehlt Ministerpräsident Löfven ganz dringend diese Lektüre, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen und zu verstehen, was das „Volksheim" wirklich bedeute. Dies provoziert vor allem diejenigen, die Lindgren als Humanistin sehen. Doch fraglich ist, ob Akesson mit dem Attribut „nationalromantisch" so unrecht hat. Immerhin sprach sich Lindgren 1995 gegen den EG-Beitritt ihres Landes aus, damit die Deutschen nicht die roten Häuser aufkaufen könnten.
Unpolitisch ist das Phänomen „Bullerbü" also wohl kaum: Wer zu dieser idyllischen schwedischen Gemeinschaftsvision dazugehören soll - und wer nicht -, bleibt eine gleichermaßen offene wie brisante Frage.