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Reportage

Existentielle Bedrohung: Anwohner wehren sich gegen den Titicacasee als Kloake

Man nehme: Hunderttausende Liter Süßwasser, mische ein wenig Bleib und Quecksilber unter, füge Klärschwämme hinzu und würze das ganze mit Müll. Fertig ist die Froschsuppe am höchstgelegenen See der Welt, dem Titicaca-See auf 3.800 Höhenmetern zwischen Bolivien und Peru. Dass der See in manchen Buchten einer Kloake gleicht, ist nicht neu. Vor drei Jahren macht der See Schlagzeilen, weil damals auf einmal mehr als 10.000 der seltenen Riesenfrösche verendeten, die nur im Titicaca-See leben. Geändert hat sich an dem Problem seitdem aber nichts. Nach wie vor leben Hunderttausende Anwohner in Bolivien und Peru an seinen Ufern täglich mit der giftigen Mischung. Doch die Politiker bleiben tatenlos. Dagegen protestiert eine indigene Umweltaktivistin aus Peru und greift nun zu anderen Waffen. Ihr Plan: Wenn die Regierung nicht zu ihrem See kommt, um sich die Katastrophe anzuschauen, fährt sie eben mit der Katastrophe zur Regierung in die peruanische Hauptstadt Lima. Jenny Barke hat sie bei ihrem Protest begleitet.


Maruja Inquilla ist nicht zu bremsen. Nicht vom dichten Schilf, das sie noch vom Ufer des Titicaca-Sees trennt. Ohne zu zögern bahnt sie sich ihren Weg durch das trockene, hüfthohe Gras."Hier werden wir gleich ganz viele tote Vögel sehen und Fische. Alles, was hier in den Fluss kommt, in den Coata. Wir werden das alles sehen, wenn wir mit dem Boot fahren." Ihre zwei geflochtenen, schwarzen Zöpfe reichen ihr bis zur Hüfte. Daran baumeln braune Wollquasten, die im Takt ihrer resoluten Schritte wippen. Mit der rechten Hand rafft sie ihren fülligen, grünen Rock. Mit der linken hält sie eine große Plastiktüte. Dort sollen die Kadaver rein. Kadaver von vom Aussterben bedrohten Riesenfröschen, die nur im Titicaca-See leben. Und Kadaver von toten Vögeln: "An einem Tag haben wir in einer Stunde 500 tote Vögel gefunden. Die Regierung sagt, wir töten die Vögel selbst." 

 

Am Ufer angekommen, trifft sie auf Gui Barreras. Er steuert das Boot, mit dem Maruja zu einer Insel gelangen möchte. Das Tagesziel der Umweltaktivistin: 130 tote Tiere sammeln. Symbolisch für die 130 Kongressmitglieder in Perus Hauptstadt Lima. Sie will diese mit deren Namen versehen vor die Tür des Kongresses legen. Wenn sie nicht zur Verschmutzung kommen, muss die Verschmutzung zu ihnen, so ihre Devise. Kopfschüttelnd sucht Gui das grünliche Wasser ab. Ein öliger Film liegt darüber, an manchen Stellen schwimmen Fetzen von Plastik, Tüten und Flaschen. Das Boot passiert ein Stück Fell: Ein totes Rind hebt sich von den Algen ab. Bis vor drei Jahren war Gui Fischer. "Hier gab es Fische, Vögel. Ich habe früher an dem See gearbeitet, jetzt arbeite ich in anderem Bereich, hier gibt es kein Leben mehr. Das Wasser können wir nicht mehr trinken, wir sind krank, mir schmerzt der Magen."

 

Der See riecht süßlich. Die Verunreinigung ist menschengemacht. Über eine Million Menschen leben in der Region. Ihre Abwässer gelangen ungefiltert in den Fluss Coata, der den See speist. Maruja drückt ihren bunt bestickten Trachtenhut fester auf den Kopf und fischt mit dem Ruder eine Windel aus dem Wasser.  "Sie nutzen die und schmeißen sie in den  Fluss Coata. Sie glauben, dass das ein Mülleimer ist. Sie haben überhaupt kein Gefühl dafür, dass es hier Gigantenfrösche gibt und was sie Flora und Fauna antun."

 

Kläranlagen gibt es nicht. Ungefiltert gelangen Exkremente, aber auch Chemikalien aus Krankenhäusern ins Wasser. Hinzu kommen Schwermetalle aus nahe gelegenen Minen. Viele von ihnen werden illegal betrieben. Davon sterben nicht nur die Tiere, sagt Maruja. "Die Kinder fühlen sich schlecht, bekommen Durchfall, den nächsten Tag sterben sie. Hier sind so viele Kinder gestorben, wir haben einen Friedhof voller Kinder. Deshalb mache ich weiter."

 

Die nationale Wasserbehörde ANA prüft das Wasser regelmäßig. Demnach sind darin zu finden: Quecksilber. Arsen. Blei. Minenabfälle. Dazu kommen Krankheitserreger wie Ecoli-Bakterien und Parasiten. Einen Zusammenhang mit erkrankten oder gar gestorbenen Tieren und Menschen lasse sich dennoch nicht erkennen, sagt Jorge Calisaya von der Regionalregierung der Stadt Puno. "Die innere Bucht ist verschmutzt, das stimmt, aber wir dürfen die Bevölkerung auch nicht unnötig in Panik versetzen. Es gibt verschiedene Krankheiten, aber es gibt da keine Studien, ob das an der Verschmutzung liegt."

Guis Boot legt an. Kaum hat Maruja einen Fuß auf Land gesetzt, schon streckt sie den Zeigefinger aus. 130 tote Vögel für 130 in Marujas Augen ignorante Kongressmitglieder zu sammeln – das fällt der Umweltaktivistin auch heute nicht schwer. Nur die vom Aussterben bedrohten Riesenfrösche entdeckt sie nicht. "Es scheint so, als würde es jetzt schon keine Frösche mehr geben."

 

Nach Angaben von Perus Regierung werden derzeit zehn Kläranlagen in der Region gebaut - ab 2022 sollen sie einsatzbereit sein. Der Limnologe Rene Alfaro erforscht den Titicaca-See seit 30 Jahren. Er glaubt nicht an die Versprechen der Zentralregierung in Lima. "Es geht nicht nur darum, die zu bauen, sondern auch im laufenden Betrieb zu bezahlen. Wer bezahlt am Ende die Kosten für die funktionierenden Kläranlagen? Die Bevölkerung. Das wird nicht gehen in einer Region extremer Armut, das akzeptiert hier keiner."

 

Dennoch rät der Limnologe dringend, zu handeln. Sonst, so schätzt er, gibt es den Titicaca-See in 50 Jahren nicht mehr. So lange kann Maruja nicht mehr warten. Mit 130 Vogelkadavern macht sie sich auf den Weg nach Lima. Und scheitert bereits nach drei Kilometern auf einer kleinen, staubigen Strasse auf der Hochebene. Ihr Bus kommt nicht weiter, weil Bauern der Region streiken. Tagelang blockieren sie die Straßen mit großen Steinen. Sie streiken gegen die Verschmutzung ihres Titicaca. Die Zentralregierung in Lima bekommt von diesem Protest allerdings nichts mit.
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