Eine Demokratie braucht mündige Athletinnen und Athleten, heißt es oft. So wehren sich etwa Turnerinnen gegen Machtmissbrauch. Doch die Realität sieht manchmal anders aus. Steht die Idee der Mündigkeit vielleicht sogar im Widerspruch zum Leistungssportgedanken?
Von Jennifer Stange | 01.10.2023
In "One Moment in Time" singt Whitney Houston zu den Olympischen Sommerspielen in Seoul 1988 eine der schönsten und erfolgreichsten Pop-Balladen auf den Leistungssport. Eine der Textpassagen lautet übersetzt so: "Ich brach mein Herz, kämpfte um jeden Gewinn (...). Ich stelle mich dem Schmerz, ich steige und falle." Houston beschreibt, was Leistungssport abverlangt und was sich Leistungssportlerinnen und -sportler selbst abringen.
Pauline Schäfer-Betz, Weltmeisterin und Vizeweltmeisterin am Schwebebalken, fühlt bei diesem Lied die Ambivalenz, die oft hinter dem sportlichen Erfolg steht. Die Turnerin geht als Teenagerin weit weg von zu Hause nach Chemnitz ins Sportinternat.
Sie gibt einen Einblick in diese Zeit: "Man hat natürlich erstmal gemacht, was einem gesagt wurde, weil man selber die Erfahrung nicht hatte, weil man der Meinung war, dass nur so auch die Leistung entsteht. Und dann war so die Grenze erreicht, ich schaffe das sowohl körperlich als auch mental nicht."
2020 geht Pauline Schäfer-Betz zusammen mit weiteren Sportlerinnen an die Öffentlichkeit. Sie werfen einer der erfolgreichsten deutschen Trainerinnen vor, mentale Gewalt auszuüben, Athletinnen zu erniedrigen und ein Training anzusetzen, das nur mit Schmerzmitteln auszuhalten ist. Mitbestimmung sei nicht nicht erwünscht gewesen.
Schäfer-Betz kritisiert: "Es war eher so, dass man Athleten wollte, die wirklich nur das gemacht haben, was man ihnen vorgibt. Das war für mich nicht Sinn der Sache. Ich wollte verstehen, was ich mache, ich wollte mitbestimmen und das war in vielerlei Hinsicht überhaupt nicht gewollt. Das hat man von Anfang an versucht, den Athleten auszutreiben."
Es ist Schäfer-Betzs Sportlergeneration - häufig Turnerinnen - die in vielen Ländern aufbegehren. Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und laut sagen, dass im Leistungssport autoritäre Führungs- und Erziehungsstile weiterleben, die in modernen demokratischen Gesellschaften als überholt und überwunden gelten.
Die Kritik der mittlerweile 26-jährigen Turnerin hat in Deutschland eine Lawine an Fragen ausgelöst: Was das darf Leistungssport, was darf er Athlet*innnen, insbesondere Kindern und Heranwachsenden, abverlangen und wie?
Der Vorstand des Ex-Vereins von Pauline Schäfer-Betz hat beschlossen, kein Interview zu geben und keine Fragen gegenüber dem Deutschlandfunk zu beantworten. Der sächsische Turnverband, verantwortlich für den Bundesstützpunkt Kunstturnen in Chemnitz, reagiert gar nicht auf eine schriftliche Anfrage.
Doch die Vorfälle beschäftigen bis heute viele in der Sportwelt, weiß Christiane Fürst, Ex-Nationalspielerin und Leiterin des Volleyball-Bundesstützpunktes in Dresden:
Die Frage, ob und wie weit Mitbestimmung gerade von Kindern und Jugendlichen im Leistungssport erwünscht sein sollte, überhaupt möglich ist, gilt immer noch als umstritten. Gerade der Nachwuchs brauche Führung zum Erfolg.
Das sieht auch Christiane Fürst so. Die Volleyballerin erwähnt vor allem Trainer alter Schule aus Osteuropa, die ihr mit einer gewissen Härte den Weg an die Weltspitze ermöglicht haben: "Wir standen da, haben es nicht hinterfragt und haben es durchgehalten. Manche sagen ja, es ist eine Treppe mit vielen Löchern."
Durchhaltevermögen - eine unentbehrliche Tugend im Leistungssport, die auch zum Aushalten und Schweigen verleitet. Das müsse sich ändern, findet auch Fürst. Sie ist für mehr Meinungsfreiheit im Sport: "Man muss sich frei äußern können, wie es einem geht. Man muss sich frei äußern können, ob diese Trainingsmethode, bis wirklich dahin, dass man dann ab einem gewissen Alter sagt: Das funktioniert, das funktioniert nicht."
Wenn es um die Demokratisierung des Leistungssports geht, schwingt eine große Angst mit, über die hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird - dass nämlich die Leistung unter diesen neueren Ansprüchen an den Sport leidet. Fürst teilt ihre Gedanken dazu: "Wir müssen mit Konkurrenz leben, wir müssen mit Leistung umgehen können, wir wollen Leistung erschaffen und na ja, diese Gleichheit... das ist ja entgegen der menschlichen Natur und es fördert auch nicht den Leistungssport."
Die Debatte darum, was diese menschliche Natur ist und was nicht, ist so alt wie die Menschen selbst. Menschen wollen selbstbestimmt leben, das zeigt sich in den letzten Jahren im Sport ganz deutlich.
Nina Reip von der Deutschen Sportjugend hat keine Angst vor der Zukunft. Was Leistungssport in einer Demokratie sein kann, müsse immer wieder ausgehandelt werden:
Pauline Schäfer-Betz ist der Beweis dafür, dass es anders geht. Sie hat Trainer und Verein gewechselt und in diesem Sommer bei den deutschen Turn-Meisterschaften den Titel am Schwebebalken geholt.
Nicht nur für sich hat sie diese zweite Karriere etabliert, auf die sie ohne gemischte Gefühle und Leid zurückschauen will: "Um einfach zu zeigen, okay, es geht auch anders." Grenzen überschreiten - aus freien Stücken.