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Die Qual, der Wal

Bild: Unsplash Ferdinand Stohr


Der erste, der einknickt, ist der Jüngste. Ein kleiner Junge, um die drei Jahre alt. Ich drehe mich um und sehe seinen kleinen Kopf fast vollständig in der blauen Kotztüte verschwinden. Er kauert sich zwei Reihen hinter mir auf dem Schoß seiner Mutter zusammen. Wer nimmt so einen kleinen Menschen bei dem Wellengang auch mit auf eine Whale Watching Tour, frage ich mich still. Wer noch keine Kinder hat, darf sowas nicht laut aussprechen.

Ich hatte mir eine Bootstour zum Wale gucken eigentlich eher ruhig vorgestellt - vielleicht, weil die Tiere selbst so majestätisch wirken, vielleicht auch, weil ich mich von all den perfekten Fotos anderer Touristen habe verleiten lassen, auf denen die Tiere aus dem spiegelglatten Meer springen.


Es gibt viele Orte auf der Welt, an denen sich verschiedene Walarten beobachten lassen. In den vergangenen Jahrzehnten ist der Tourismus rund um die riesigen Meeressäuger immer weiter gewachsen - so sehr, dass Meeresbiologen davor warnen, dass zum Beispiel der Lärm von Bootsmotoren den Tieren Stress verursacht.


Noch gibt es keine internationalen Vorschriften zum Schutz von Walen vor den Touristen, aber viele Länder haben Gesetzte vor Ort. Dazu gehört oft ein Mindestabstand, eine langsame Geschwindigkeit des Bootes und eine Höchstdauer der Begegnung zwischen Walen und Booten.


"Mir ist schlecht." Meine Bekannte Tanja, die ich auf meiner Rundreise durch Sri Lanka kennengelernt habe, sieht auch nicht mehr fit aus. Vor einer halben Stunde sind wir im Hafen von Mirissa, im Süden des Landes, auf ein Boot gestiegen um Wale im Indischen Ozean zu sehen. Für 30 Euro. Kann man machen, dachten wir uns. Kann man aber auch lassen, denken wir uns jetzt.


Seit Tagen ist es sehr windig, das Meer schlägt Wellen. Wie groß die sind, merken wir erst jetzt. Wir werden noch über eine Stunde lang fahren müssen, bis wir Wale sehen können, wurde uns gesagt. Wenn wir überhaupt welche sehen. Alle Passagiere halten sich an ihren Sitzen fest, wackeln im Auf und Ab der Wellen mit.


Würggeräusche hinter mir. Es ist die Mutter. Ich bin ein bisschen schadenfroh. Würggeräusche vor mir. Ein Typ um die 20 hält seiner Freundin die Haare zurück. Und der auf dem Sitz direkt vor mir beugt sich auch schon vor. Ich lehne mich zurück.

"Tanja, immer auf den Horizont gucken." Endlich findet mein Rezept gegen Seekrankheit Abnehmer. Hat mir mal ein Segler in Palermo verraten. Funktioniert.

Tanja gehorcht. Seit gestern hat sie einen fiesen roten Sonnenbrand auf den Schultern - ihr Gesicht hat nun ein paar Minuten eine noch ungesündere Farbe. "Brauchst du ne Kotztüte?", frage ich. Tanja starrt und nickt.


Ich winke ein Crew Mitglied von "Good Boy Whale Watching" heran und reiche die blaue Tüte gleich weiter. Das sind wirklich gute Jungs. Erst haben sie Sandwiches und Tee verteilt, und jetzt Kotztüten, damit die Sandwiches gleich wieder entsorgt werden können. Sie tun mir ein bisschen leid. Einer guckt ziemlich angewidert auf die Freundin von dem 20-Jährigen. Das klingt aber auch schlimm. Wie viele Sandwiches hat sie denn gegessen?

Sogar die Surfer, die sich lässig direkt ganz vorne ans Geländer gesetzt haben, wo es am meisten schaukelt, kabbeln sich jetzt nicht mehr. "Die sind sich vor ihren Kumpels zu cool, um sich eine Tüte geben zu lassen", sage ich zu Tanja und grinse sie an. Tanja zieht den Mundwinkel leicht nach oben.


Auf einmal beugt sie sich nach vorne und... fängt an zu lachen! Ich folge ihrem Blick.

Und sehe gerade noch, wie der Surfer, der ganz links sitzt, den Kopf zur Seite dreht. Die flüssige Masse fliegt in einem Bogen zur Seite. Zum Glück hat er daran gedacht, aus welcher Richtung der Gegenwind kommt. Dafür hat das Boot etwas abgekommen. Jetzt tun mir die Good Boys noch mehr leid. Trotzdem muss ich lachen. Der Surfer übrigens auch. Es ist alles so absurd. Da zahlt man Geld, damit es einem schlecht geht. Da mir nicht wirklich übel ist, finde ich alles nur noch lustig.


Da schreit ein Good Boy: "Over there, over there" und zeigt hinaus aufs Meer. Offenbar ein Wal. Doch die meisten gucken nach unten und bleiben sitzen. Ihnen ist zu übel. Tanja auch.

Etwa ein Drittel der Passagiere steht auf. Alle halten sich an der Reling fest und gucken in die Richtung, in die gezeigt wird. Ich auch. Ich spüre die Kraft der Wellen, muss mich gut festhalten, um nicht umzufallen. Ich gucke also und sehe: nichts. "Where?", fragen einige.

Und wo reist du als nächstes hin?


Ich will ihn endlich auch sehen, gucke wieder in die richtige Richtung, und sehe: nichts. Veräppelt der uns, oder was? Ich denke an meine ältere Schwester. Die hat früher an Weihnachten auch immer aus dem Fenster gezeigt. "Da ist das Christkind." Ich: "Wo, wo?" Sie: "Oh, jetzt ist es wieder weg."


"Over there, over there!" Da ist er. Ich sehe die graue Haut eines Wales aus dem Meer auftauchen und wieder verschwinden. Ich schätze die Länge dessen, was ich gesehen habe, auf sechs Meter. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen winzigen Teil eines Wales gesehen. Ich hatte mich so darauf gefreut. Jetzt tut sich in mir gar nichts. Das war's? "Over there, over there." Ich kralle mich an die Reling, hebe mein Handy und drücke auf den Auslöser. Das Ganze wiederholt sich noch sechs Mal, dann drehen wir um. Ich setze mich wieder neben Tanja. "Hast du einen Wal gesehen?", frage ich. "Nein", sagt sie.

Sie sei nicht aufgestanden. Ich nicke. Und gucke nach unten auf mein Handydisplay. Ich bewege Daumen und Zeigefinger auseinander. Es zoomt. Da. Da ist er. Ein kleiner grauer Strich.


Freunde, die schon bei einer Whale Watching Tour waren, waren begeistert, haben Flossen gesehen. Aber damit sich Wale wirklich zeigen oder sogar aus dem Wasser springen, muss die See ruhig sein. Das war heute nicht der Fall. Ich klicke durch die Bilder und schaue wieder nach oben. Auf einmal spüre ich meinen Magen. Verdammt. Zum ersten Mal seit drei Stunden habe ich nicht in die Richtung des Horizonts geschaut. Ich drehe mich zu Tanja. "Brauchst du deine Tüte noch?"

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