Jennifer Hinz

Freie Journalistin & Autorin, Berlin

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Gestochen scharf

Eine junge Frau liegt auf einer schwarzen Kunstlederpritsche. Ihr Oberkörper ist entblößt, ihre Brüste verdeckt sie mit einem Handtuch. Sie verzieht vor Schmerzen das Gesicht. So weit nichts Ungewöhnliches, gerade an der Reeperbahn. Vorsichtig wischen zwei Hände in schwarzen Gummihandschuhen mit einem Tuch Farbe und Wundflüssigkeit von ihrem Rücken. Das Bild der kleinen Fee Tinkerbell aus "Peter Pan" inmitten von Hibiskusblüten nimmt Form an. Ein Surren setzt ein, penetrant, mit wenigen Höhen und Tiefen. 

Für Tätowierer Günter Götz ist es Alltagsmusik und das sichere Zeichen, dass der Rubel rollt. Auch nach 68 Jahren. So lange schon gibt es Deutschlands älteste Tätowierstube. Günter Götz arbeitet seit 1979 in dem kleinen Studio in einer Seitenstraße der Reeperbahn. Fünf Jahre später übernahm er die Leitung von Herbert Hoffmann, seinem Onkel.

Für ihn und seine Kundin Sandra wird es heute ein langer Tag. Die Konturen des Tattoos müssen ausgemalt und schattiert werden. Vier bis fünf Stunden halten die meisten durch, Frauen sogar länger, sagt Götz. "Sie wollen lieber alles mit einem mal fertig haben, anstatt noch einen Termin zu machen." Wäre es nach Sandra gegangen, hätte ein Termin vielleicht auch gereicht. Schließlich sollte Tinkerbell, ganz der Filmvorlage entsprechend, winzig klein auf dem Rücken prangen. Und genau da geht das Problem los, welches Götz manchmal große Aufträge, aber viel häufiger noch lange Diskussionen einbringt. Tattoos folgen einer ähnlichen Entwicklung wie Kleidungsstücke. Im Laufe ihres Lebens verformen sie sich. Während das Baumwoll-T-Shirt ausleiert, wächst das Tattoo mit der Haut. Feine Linien werden irgendwann zu dicken Balken, eine Miniatur-Tinkerbell verkommt zur Pummelfee.

Häufig hilft eine Beratung, ein konkretes Bild von dem, was in zehn Jahren wahrscheinlich aus dem Tattoo geworden sein wird, um die Leute vor sich selbst zu schützen. Dann halten sie es so wie Sandra - etwas größer, mit breiteren Zwischenräumen, die schlaffer werdendes Gewebe verschmerzen. Ein guter Tätowierer kennt das Wörtchen "Nein". Götz sagt es häufig, denn viele Kunden seien beratungsresistent. Das Telefon klingelt. Götz antwortet knapp, fragt nach: "Und wo soll das genau hin?", hört noch ein bisschen zu und schließt mit: "Nein, so etwas mache ich nicht." Danach blickt er amüsiert in die Runde. "Die war vielleicht 17, 18 Jahre alt und will sich die Fingerknöchel tätowieren lassen. Na, bei mir jedenfalls nicht", sagt Götz. Exponierte Stellen wie der Hals und das Gesicht kommen ihm nicht unter die Nadel. Zu groß sei die Gefahr, irgendwann im Beruf Probleme zu bekommen. Er taucht die Nadel seiner Tätowiermaschine in ein fingerhutgroßes Gefäß und wendet sich wieder seiner Arbeit zu.

Sandra ist 28 Jahre alt. Es ist ihr erstes Tattoo. Ihren Eltern hat sie ersteinmal nichts von ihrem Vorhaben erzählt. Ihr Freund begleitet sie zum "Stichtag", wie die stundenlangen Tätowiersitzungen heißen. Den Auftrag, aus einer vagen Motividee ein ausgefeiltes Tattoo-Motiv zu entwickeln, sprichwörtlich auf einer weißen Leinwand zu beginnen, bekommt Götz nur noch selten. Meistens bekommt er es mit Arbeiten von Kollegen zu tun, denen das Wörtchen "Nein" nicht so leicht über die Lippen ging. Dann stehen Männer und Frauen in seinem Studio und klagen ihr Leid über das wenig figurschmeichelnde Arschgeweih oder das bunte Stelldichein von Drache, Anker und Adler, willkürlich zusammengewürfelt, wie mit dem Kugelschreiber gekritzelt.

Mit einer weiteren Schicht Tinte sind solche Kunsterzeugnisse nicht zu retten. Verschwinden müssen sie trotzdem. Götz baut sie einfach in seine neuen Entwürfe ein, macht aus einem Schmetterling eine Echse und aus einer Blüte ein Seepferdchen. Der Tätowierer schaut genau hin, bevor er mit der Entwicklung eines neuen Motivs auf dem Papier anfängt. Er studiert die Körperform, prägt sich sein, wo Muskeln und Knochen die Haut wölben. Ein Tattoo soll dem Körper schmeicheln, Schönes unterstreichen und kleine Makel kaschieren. Am Ende blickt Götz auf eine Tätowierung, die mit dem anfänglichen Sorgen-Tattoo nichts mehr zu tun hat, dafür aber häufig viel größer ist. Der Kunde müsse verstehen, dass ein handrückengroßes Tribal auf einem breiten Männerrücken verloren aussehe. Der Wunsch, es möglichst unscheinbar zu halten, widerspricht Götz' Philosophie. Seine Arbeiten sind Körperschmuck. Einem Trend wie den fast unsichtbaren, mit weißer Tinte gestochenen "White Ink Tattoos" würde er niemals folgen. Wer das nicht einsehen will, kassiert auch mal einen Mittelfinger. Natürlich mit Augenzwinkern.

Eine Laserentfernung stehe für die meisten außer Frage, sagt Götz. Zu kostspielig und schmerzhaft fänden viele das Prozedere, an dessen Ende eine weiße Narbe anstelle des Tattoos steht. Wer den Schritt dennoch wagt, landet nicht selten wieder beim Tätowierer. Eigentlich wolle man ja ein Tattoo, nur eben ein gut gemachtes. Götz lässt auch andere Narben verschwinden. Jene, die etwa von Operationen oder Unfällen herrühren. Einmal wandte sich eine Frau nach einer Brustkrebsoperation an ihn. Die weggeschnittene Brustwarze tätowierte er nach, die Narben ließ er unter Blütenranken verschwinden.

Sandra ist für heute fertig. Rund vier Stunden hat der Termin gedauert. 200 Euro muss sie zahlen, die Götz in die Hosentasche steckt. Ihre Knie zittern, als sie zum Spiegel geht, um ihren Rücken zu begutachten. Tinkerbell hat nun blonde Haare und schwebt durch orangefarbene Hibiskusblüten. Götz notiert, welche Farben er verwendet hat, und erkundigt sich, ob das nächste Tattoo noch für dieses Jahr geplant sei. Bei einem Tattoo bleibt es selten, weiß er.

Die Wände der ältesten Tätowierstube Deutschlands sind mit Zeichnungen gepflastert. Früher sei man zum Tätowierer gegangen, hätte mit dem Finger auf eine Vorlage gezeigt, und schon surrte die Maschine, erinnert sich Götz. Individuelle Zeichnungen waren unüblich. Günter Götz hat selbst nur drei Tätowierungen, von denen zwei von einem Kollegen erweitert wurden. "Ich habe lange gesucht, aber niemanden gefunden, der meine Ideen so umgesetzt hätte, wie ich mir das vorstelle." Alle Hinweise auf sein Handwerk sind unter Kleidung verborgen. Weltweit seien Götz nur drei Tätowierer bekannt, die selbst gar kein Tattoo hätten. Auch gute Tätowierer können eben nicht immer "Nein" sagen.

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