" Mio" heißt "meiner" auf Italienisch und Spanisch. Das Mio in Berlin ist außerdem ein Restaurant am Alexanderplatz, das laut den einschlägigen Bewertungsportalen im Netz alle Kriterien eines Touristenlokals erfüllt: zentrale Lage, hohe Preise, niedrige Qualität und eine Bedienung, die in vielen Sprachen unhöflich sein kann. Glaubt man den Nutzern, setzt es in seiner Kategorie sogar Maßstäbe - es gehört unter den Berliner Lokalen, die von vielen Usern bewertet wurden ( bei Tripadvisor sind es 150), zu denen, die herausragend durchwachsen wegkommen: "Das Personal strahlt voller Arroganz und ist zudem auch mal frech und unfreundlich", heißt es da, oder: "Schrecklich. Noch nie so etwas Unterirdisches erlebt."
Nun, unterirdisch ist schon mal nicht ganz richtig. Das Restaurant liegt zwar 368 Meter unter der Spitze des Fernsehturms, aber immer noch auf gleicher Höhe mit dem Alexanderplatz. Besser, man macht sich selbst ein Bild.
Auf zum Alexanderplatz also, zu bester Touristenzeit: Freitag nach eins, da müsste der Service schon langsam genervt sein. Das Mio liegt nicht nur zu Füßen des Fernsehturms, es hat sich unter seinen Betonzehen verkrochen, sodass es jetzt aussieht wie ein Termitenbau, auf dem ein riesiger Tintling sprießt. Vor dem Eingang stehen dicht an dicht Parasole - manchen bekannt als Sonnenschirme -, die jeweils vier Terrassentische und zwei Heizpilze bedecken. Die Gäste, größtenteils junge Frauen mit besten Freundinnen vor Weißweinschorlen, haben sich trotz der Heizpilze Fleecedecken umgehängt, die auf den Terrassensesseln ausliegen. Im Inneren sitzen, das offenbart ein Blick durch die Glaswände, vor allem Ehepaare mittleren Alters.
Wochenends wird das Mio zum Club. Das Innere des Restaurants hat daher eine leichte Großraumdisco-Anmutung. In Russland spricht, wer so etwas sieht, vom "Orgasmus des Plebejers": Alles, alles glitzert. Von der Decke hängen Kristallleuchter, die Bar ist mit goldenem Glitter angestrichen, in der Mitte des Raumes stehen Rücken an Rücken zwei gigantische Lounge-Sofas aus silbernem Kunststoffbezug, leicht abwaschbar. Statt Stühlen gibt es Clubsessel aus Kunstsamt. Auf den Tischchen davor liegen passende Deckchen, die den Kellnern im Innenbereich das Abwischen ersparen.
Um das alles auf sich wirken zu lassen, bleibt wenig Zeit, denn schon der dritte vorbeilaufende Kellner, ein großköpfiger Ober, der als einziger ein Jackett trägt, richtet zielgenau den Zeigefinger auf den Gast und fragt: "Haben Sie schon was bekommen?"
Verneint man, händigt er Getränke- und Speisekarte aus und prescht weiter. Die Speisekarte aus abwaschbarem Kunststoff ist zweisprachig (Deutsch-Englisch), laminiert und doch zerfleddert, ganz wie es sich für ein Touristenlokal gehört. Die Preise orientieren sich in der Höhe in Richtung Fernsehturm: 3,90 Euro für zwei Zentiliter frisch gepressten Orangensaft - ambitioniert!
Bei den Speisen wird nicht recht klar, wo das Mio mit seinem Namen hinwill: Spaghetti Bolognese, Pizza Quattro Formaggi, Nachos, argentinisches Rinderfilet, Kartoffelsüppchen, Currywurst. Italienische Trattoria, lateinamerikanischer Comedor, deutsche Imbissbude? Am besten bestellt man als Tourist vielleicht einfach etwas, das "Berlin" im Namen trägt: den Mio-Berlin Burger. "Hausgemachtes Hacksteak aus feinstem Black Angus Rindfleisch im Burger-Brötchen", verspricht die Speisekarte, in der englischen Unterzeile hat man sich das mit dem "hausgemacht" und "fein" lieber geschenkt.
Viele User merken in ihren Bewertungen an, dass im Mio Wert auf Entschleunigung gelegt wird. 40 Minuten Wartezeit geben sie im Schnitt an, bis das erste Essen serviert wird. Dafür werde dem Gast einiges an Abwechslung geboten: " Service is slow and you never get the same staff member twice", schreibt einer. Genug Personal scheint es in der Tat zu geben: Mindestens acht Kellner halten sich am Freitagnachmittag im Mio und auf der Terrasse auf.
Die Wartezeit aufs Essen reicht allerdings dann doch nicht aus, um sie sauber durchzuzählen: Einmal Instagram checken, schon steht die Bestellung auf dem Tisch. Zum Orangensaft bekommt man tatsächlich einen neuen Kellner. Dieser hier ist jünger, schlanker und hat dunklere Augen. Und auch das Essen sieht für ein Touristenlokal sehr präsentabel aus. Doch es zählen die inneren Werte. Also: probieren.
Essen = Aufwischen
Wenn "frisch" auch "kühl" bedeuten soll, dann hat der Orangensaft alles richtig gemacht. Einen leicht säuerlichen Einschlag mag er zwar haben, dafür wird er aber in einem gigantischen Rotweinglas gebracht. Das Essen setzt auf Understatement: Die Pommes sind leicht zu kauen, eher blond als fettgold, mit Sommersprossen aus Gewürzpulver. Zum Glück gibt es ein Tütchen Ketchup dazu.
Das "hausgemachte Hacksteak aus feinstem Black Angus Rindfleisch" im Burger ist solide. Eine solide, homogene Masse, die sich elastisch dehnt, wenn man mit der Gabel hineindrückt. Vielleicht war mit "fein" ja gemeint, dass das Hackfleisch fein passiert ist. Das Brötchen hingegen ist fluffig. So fluffig, dass es nach einigen Bissen in kleine Flocken zerstiebt und auf den Teller rieselt. Die Tomatensoße, die das Ganze bis jetzt zusammengehalten hat, fließt in beeindruckender Menge hinterher und verteilt sich auf den blonden Pommes. Neben den Inhalt des Ketchuptütchens. Essen sieht da fast wie Aufwischen aus, und das löst beim Kellner Anerkennung aus.
"Alles gut?", fragt er, der Jüngere, Schlankere mit den dunkleren Augen, und zeigt auf den Teller. Die User-Behauptung, es interessiere "hier niemanden wie man sich fühlt oder ob alles in Ordnung ist", ist also falsch. Auf die Entgegnung, dass man noch einen Nachtisch möchte, fragt er sogar noch einmal nach, falls man es sich anders überlegt: "Einen was?"
"Einen Nachtisch."
Der Kellner greift die Speisekarte vom Pult hinter sich, faltet sie fuchtelnd an der Stelle "Dessert" auf und liest vor: "Lauwarmer Apfelstrudel, Nougat-Parfait, zwei lauwarme Schoko-Brownies und Tiramisu à la Mio." Lauwarm scheint im Mio eine positive Beschreibung zu sein, da sie so oft eingesetzt wird. Selbst im englischen Kartentext ist "lukewarm" zu lesen. Vielleicht ist ja eine besondere Wortbedeutung gemeint, ähnlich wie bei dem feinen Hacksteak. Selbst der Kellner ist sich nicht sicher: "Ja, das ist… warm… also, nicht kalt", erklärt er. Ach so. Und sind sie innen weich? "Ja, die sind weich", erklärt er strahlend. Zum Nachtisch also zwei lauweiche Brownies.Tische werden abgeschmirgelt
Er eilt weiter. Auch seine Kollegen sind ohne Pause unterwegs: Beflissen flitzen sie von der Küche, die sich unweit der glitzernden Bar befindet, auf die Terrasse, machen, Habichten ähnlich, ihr Ziel aus und steuern es dann mit überfallartiger Zielstrebigkeit an. Wer kein Ziel ausmachen kann, stürmt wieder hinein, läuft einmal durch den Gastraum und prescht zurück nach draußen. Wen das Laufen nicht auslastet, der baut überschüssige Energie beim Tischabwischen ab. So energisch reißen die Kellner auf der Terrasse den Lappen auf den Glasplatten hin und her, dass sie nach der Behandlung vermutlich nicht nur abgewischt, sondern abgeschmirgelt und geschliffen sind.
Der jüngere, schlankere Kellner mit dunkleren Augen – sollen wir ihn Mio nennen? – nimmt sich bei all dem Stress dennoch die Zeit, den Nachtisch zu bringen. Die Konversation beschränkt sich auf ein unaufdringliches Mindestmaß: "Lass schmecken!" Auf jeden.Das Dessert ist bezaubernd schön. Aus eiskalter Vanillinsoße und warmer Schokoladencreme hat der Koch eine Sonne gemalt, neben der zwei glasierte, lackartig glänzende Brownies liegen. Die Zwischenräume, in denen der Teller hervorschimmert, sind mit Obstscheiben ausgefüllt: Ananas, Apfel, Melone. Ob das Johannisbeerzweiglein daneben gewaschen ist, ist unklar, auf jeden Fall ist es frisch gepudert – mit Zucker. Dazu gibt es einen superlangen Latte-Macchiato-Löffel – und die kleine Denkaufgabe, wie man damit die Obstscheiben essen soll. Der Koch hat sich das alles klug ausgedacht: Denn die Brownies, die zunächst einmal heiß sind, werden bestimmt lauwarm, wenn man sie beim Nachdenken stehen lässt. Der Teig ist tatsächlich innen weich, so weich, dass man ihn wirklich gut mit dem Löffel essen kann.
Aber das Schönste an den heißen und weichen Brownies ist das laue Gefühl, das einen noch begleitet, wenn man längst schon gezahlt hat und noch ein verstohlenes Touristenfoto vom Fernsehturm macht. Fast so wie als Kind, wenn Mutter Schokokuchen gebacken hatte und man mit dem Essen sofort anfing, als er aus dem Ofen war, spürt man ein kleines bisschen Bauchweh und ein kleines bisschen Nostalgie. Das fühlt sich so heimelig an, dass es nicht für Touristen bestimmt sein kann. Und teuer genug, um sich so richtig über den Tisch gezogen zu fühlen, war es mit 21,70 Euro auch nicht.
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