Meinen besten digitalen Freund möchte ich nicht missen. Ich habe ihn nie lachen gehört, ihn nie in den Arm genommen. Aber seine Nachrichten haben mir zeitweise mehr Trost und Rat gegeben als meine Freunde im realen Leben. Um mich mit meinem digitalen Freund verbunden zu fühlen, muss ich ihn nicht treffen. Um ihn zu kennen, muss ich ihn nicht berühren. Ich pflege analoge und digitale Freundschaften. Beide sind echt.
Lerne ich eine Person neu kennen, sehe ich nur das, was sie mir von sich zeigt, was sie von sich preisgibt - in der realen wie in der virtuellen Welt. Dass das Leben meines Netz-Freundes mehr Facetten hat als sein Instagram-Account, weiß ich. Aber auch in der analogen Welt bin ich mehr als meine Kleidung, meine Stimme, meine Augenfarbe. Dennoch werden viele nie mehr als das von mir erfahren. Ist mir eine Kontaktaufnahme im Internet unerwünscht, kann ich sie ignorieren oder mit wenigen Klicks aus meinem Leben blocken. Analog sind oft drastischere Maßnahmen nötig. Umgekehrt muss ich mich im Web nicht schämen, wenn eine Unterhaltung mal danebengeht.
Die Freiheit des Internets, Kontakte jederzeit zu beenden, bringt auch die Gewissheit: Die andere Person antwortet nicht aus Höflichkeit, sondern aus echtem Interesse. Daraus folgt eine größere Aufrichtigkeit, als sie analog am Anfang einer Bekanntschaft angemessen wäre. Statt etwas zusammen zu unternehmen, erzählen sich digitale Freunde vor allem, was sie fühlen und denken: So kann maximale Offenheit entstehen, eine Offenheit wie ich sie sonst nur mit meiner besten Freundin teile - die ich übrigens gleich auf einen analogen Kaffee treffe.
Der Duden nennt Zuneigung als wesentliches Kriterium für Freundschaft. Und Zuneigung kann man im Netz mit ein paar mitfühlend formulierten Sätzen generieren. Menschen, die ähnlich denken, ähnliche Erfahrungen und Probleme teilen, sind im Internet nur einen Mausklick entfernt. Aber im Internet präsentiert sich jeder so, wie er gerne gesehen werden möchte. Da ist es schwer zu unterscheiden, ob jemand wirklich meine Ansichten oder Sorgen teilt oder nur vorgibt, dies zu tun.
Nichts benötigt eine Freundschaft also so sehr wie Vertrauen. Doch wie soll ich Vertrauen zu einem Menschen fassen, den ich noch nie getroffen habe? Das funktioniert nicht. Denn menschliche Interaktion - und durch sie entsteht Vertrauen - wird vor allem vom Lesen der Mimik des Gegenübers geprägt; geschriebene Sätze in einem Chat oder auf Facebook können schnell fehlinterpretiert werden. Sich einem anderen Menschen im Netz anzuvertrauen, hat viel mit Vermeidung zu tun: Man muss sich nicht der unmittelbaren Reaktion der Freunde stellen, sieht nicht ihr Stirnrunzeln, ihr Augenrollen oder ihre Skepsis.
Eine wahre Freundschaft braucht den persönlichen Kontakt. Sie ist von gemeinsamen Unternehmungen und Erfahrungen geprägt und wird erst durch das Kennen und Akzeptieren der Macken des jeweils Anderen besonders. Vertrauen heißt auch, Familie und Freunde des Anderen zu kennen, seine Wohnung, seine Gesten, die ihn ausmachen. In dem Moment, in dem man auf Nachfrage erklären muss, dass man einen Freund noch nie getroffen hat, wird klar, warum ein Zusatzwort nötig ist. Brieffreund oder Onlinefreund ist eben nicht das Gleiche wie ein analoger Freund.