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So kriegt man Schwänzer zurück ins Klassenzimmer

Foto: Getty Images/Ikon Images

Jeden zweiten Tag schaffte sie es nicht. Es ging ihr einfach zu schlecht. Sie konnte nicht gut schlafen, sie bekam keine Luft, morgens nach dem Aufstehen wurde ihr schlecht, sie musste sich übergeben. Manchmal hatte sie auch Fieber - und ständig diese Bauchschmerzen. So kann man doch nicht zur Schule gehen. Das sah auch die Mutter so, am Anfang zumindest. Ihre Tochter war in der fünften Klasse, als es losging mit den Problemen. Der Arzt aber fand nichts, alles sei in Ordnung mit dem Kind - jedenfalls was seine körperliche Gesundheit betreffe.

Zwei Jahre lang ging das so, bis zur siebten Klasse. Die Bauchschmerzen blieben, das Mädchen ging nur sehr unregelmäßig zur Schule. So steht es in dem Fallbericht des Arztes, der das Kind behandelt hat. Die Schulschwänzerin, so nannten die anderen Kinder das Mädchen. Ihr Arzt nennt es: eine Schulvermeiderin.

Das ist der Fachbegriff, sagt Martin Knollmann, der Psychologe leitet die Station für Jugendliche mit Schulvermeidung und damit verbundenen psychischen Erkrankungen am Klinikum in Essen. Fünf bis zehn Prozent der Schüler in Deutschland fehlen öfter als fünf Mal im Jahr unentschuldigt. Zwei Typen gibt es bei jenen, die sich vor der Schule drücken: die Kinder, die hinter dem Rücken ihrer Eltern blaumachen, weil sie keine Lust auf die Schule haben. Und die Kinder, denen die Schule solche Angst macht, dass jeder Versuch, dort hinzugehen, zu einem Kampf für sie wird.

Über 90 Prozent dieser Kinder, so zeigen Studien, haben ernsthafte psychische Erkrankungen. Sie gehen nicht nur deshalb nicht in die Schule, weil ihre Noten schlecht sind oder sie gemobbt werden. Sie gehen nicht hin, weil sie mehr Belastungen als andere tragen müssen, damit komplett überfordert sind - und die Eltern mitunter falsch reagieren.

Keine Bockigkeit, sondern Angst

Kinder können nicht wie Erwachsene argumentativ ihre Rechte verteidigen, wenn das Leben sie überfordert. Ihre Möglichkeiten zu protestieren, sind sehr begrenzt. Nicht zur Schule zu gehen ist eine dieser Möglichkeiten - und eine der wirkungsvollsten. Hilflosigkeit führt zu dieser Verweigerung, die weniger als Bockigkeit auftritt, denn als Angst.

Ein Kind kann dieses Dilemma nicht allein auflösen. Ist die Angst vor der Schule da, dann kommt es auf die Erwachsenen an. Und das Kind hat nur dann eine Chance, wenn sich die Eltern und Lehrer richtig verhalten - und sich nicht zu Komplizen der Angst machen lassen.

Die Überforderung kann viele Gesichter haben, Martin Knollmann kennt sie alle. Das Mädchen, dessen Vater alkoholkrank war und das durch mehrere Umzüge der Familie schon fünf Schulwechsel hinter sich hatte, dessen Noten schlecht waren und das in jeder neuen Klasse gemobbt wurde. Oder Kinder, bei denen auf den ersten Blick alles stimmt: die zu den Besten der Klasse gehören, für die aber jede Zwei eine Katastrophe ist und zu massiven Versagensängsten führt.

Das Zusammenspiel von Angst und Depression steckt besonders häufig hinter der Schulvermeidung. Es geht oft beim Übergang an eine weiterführende Schule los, wenn die Anforderungen in der Schule steigen und die Kinder sich an einer neuen Schule zurechtfinden müssen, mit zehn Jahren oder elf.

Schlechte Noten und Mobbing

Wenn Kinder sich vor der Schule zu drücken beginnen, ist es eine große Herausforderung, herauszufinden, was genau dahintersteckt. Die jüngeren Kinder können es selten selbst sagen, sie zeigen vor allem psychosomatische Symptome: Schwindel, Übelkeit, Bauchschmerzen. Die Eltern rennen dann von einem Arzt zum nächsten, und es vergeht oft viel Zeit, bis die Psyche als Auslöser der Beschwerden ausgemacht wird. Die älteren Kinder reden oft gar nicht darüber.

Jeder Schulvermeider ist anders, bei jedem kommen unterschiedliche Belastungen zusammen, die zu der übergroßen Angst vor dem Schulbesuch führen. Viele gehören eher zu den Verlierern des Schulsystems, wie Knollmann in den Daten seiner Patienten sieht: Ein Drittel von ihnen geht auf eine Hauptschule, über 60 Prozent hat schon einen ungeplanten Schulwechsel hinter sich.

Mehr als 30 Prozent der Kinder sind sozial nicht gut integriert, sie geraten oft mit anderen in Streit oder ziehen sich sehr zurück. 22 Prozent der Schulverweigerer berichten, dass sie gemobbt werden.

Wenn die Eltern mitmachen

Die Familien, aus denen Schulvermeider kommen, sind oft in Nöten. Mehr als die Hälfte der Kinder lebt nur mit einem Elternteil zusammen, es gibt finanzielle Probleme und gesundheitliche: Ein Drittel der Eltern leidet an einer schweren körperlichen Erkrankung, 15 Prozent haben eine psychiatrische Diagnose.

Es gibt die Eltern, denen schon alles über den Kopf wächst, wenn sie nur an sich selbst denken. Es gibt die Eltern, denen ihre Kinder egal zu sein scheinen, die keine Notiz von ihnen nehmen, ob sie nun zur Schule gehen oder nicht. Und es gibt viele Eltern, die sich sorgen um ihre Kinder - so sehr, dass sie ungewollt ihrem Kind dabei helfen, die Schule zu vermeiden.

"Manche Kinder müssen sich morgens vor der Schule übergeben oder haben starke Bauchschmerzen", sagt Natalie Waschke vom Zentrum für Schulpsychologie in Düsseldorf. Wer will und kann dann schon hart bleiben? Genau das müssten die Eltern aber eigentlich tun: Das Kind in die Schule schicken, ihm Mut machen - und gleichzeitig um Hilfe bitten. Bei der Schule nachhaken, einen Schulpsychologen hinzuziehen.

Stattdessen sehen viele Eltern hilflos zu, wie ihr Kind Tag für Tag im Bett liegen bleibt, wie es danach stundenlang am Rechner zockt. Sie stellen ihm ein Mittagessen hin, schreiben weiter Entschuldigungen für die Schule. Der Teufelskreis beginne, wenn die ersten längeren Fehlzeiten da seien und auch die Eltern nicht mehr weiterwüssten, sagt Waschke. Wenn sie es aufgäben, die Kinder zum Schulbesuch zu bewegen.

Solche Eltern fühlen sich ohnmächtig, haben Schuldgefühle und gleichzeitig Angst, ihren Kindern zu viel zuzumuten. Und die sind irgendwann an dem Punkt, an dem sie keinen Weg zurück sehen. Die Angst, die vielleicht mal konkret war, wird zur Hysterie. Was würden die anderen Schüler denken, wenn ich wiederkomme? Was soll ich ihnen sagen?

Wann der Schulwechsel sinnvoll ist

Die Schule zu wechseln, das kommt vielen Eltern als beste Lösung in den Sinn. Aber nicht immer hilft so ein Neustart dem Kind. "Wenn hinterher an der neuen Schule dieselben Probleme wieder auftauchen, werden die Ängste eher umso stärker", sagt Waschke. Die Hilflosigkeit rückt dann in den Vordergrund: Wenn das die Lösung sein sollte und es jetzt schon wieder losgeht - was kann mir dann noch helfen?

Sinnvoll ist der Wechsel nur dann, wenn Leistungsängste im Vordergrund stehen, also die Schulform falsch gewählt ist, oder wenn soziale Strukturen in der Klasse völlig aus dem Ruder laufen. In den meisten Fällen aber müssen andere Lösungen her.

In Martin Knollmanns Beratungsstelle wird genau hingesehen, wenn ein Kind das erste Mal zu einer Beratung kommt. Was ist der Kern des Problems? Oft hilft es schon, mit der Schule zu sprechen und Regeln zu vereinbaren, zum Beispiel, um weiteres Mobbing zu verhindern. In manchen Fällen hat die Schule gar nicht so genau hingeschaut, wie oft und warum der Schüler fehlte.

In anderen ist man zu vorsichtig: Da haben es die Eltern endlich geschafft, das Kind in die Schule zu bringen, und prompt melden sich die Lehrer nach zwei Stunden ihnen mit der Bitte, es abzuholen - wegen starker Bauchschmerzen. Um dem Kind zu helfen, braucht es auch das Engagement der Schule.

Hilfe suchen beim Amt

Hat die Familie selbst Probleme, gibt es keinen geregelten Tagesrhythmus oder häufen sich Konflikte, kann das Jugendamt Hilfen zur Erziehung bereitstellen. Mit den Eltern wird besprochen, wie wichtig es ist, die Verantwortung für den Schulbesuch an ihr Kind zurückzugeben und ihm das Leben ohne Schule möglichst unattraktiv zu machen. Wer nicht zur Schule geht, der schläft nicht aus bis elf Uhr vormittags, und sitzt auch nicht den ganzen Tag am PC, sondern muss zu Hause lernen.

"Oberstes Ziel ist, dass die Schüler wieder so schnell wie möglich in die Schule gehen", sagt Knollmann. Zur Not in die hauseigene Klinikschule. In der Beratungsstelle und manchmal bei einem stationären Aufenthalt lernen die Schulvermeider, aktiv zu werden, ihren Tag zu strukturieren, Sport zu treiben, sich Erfolge zu verschaffen. Sie lernen, welche Gedanken ihnen dabei helfen, die Angst zu vertreiben, wenn sie wiederkommt.

Jedes Kind muss dabei seinen eigenen Weg finden. Dass es trotz der Hilfe schwierig sein kann, den Schulbesuch wieder zum Normalfall zu machen, zeigen Knollmanns Zahlen: 60 bis 65 Prozent der ehemaligen Patienten besuchen die Schule wieder regelmäßig. Aber fast 40 Prozent sieht Knollmann wieder - mitunter sogar mehrmals.

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