Rathen in Sachsen. 349 Einwohner, Inzidenz von 4800. Die höchste in Deutschland.
Alles halb so schlimm, sagen die Bewohner. Und genau das ist das Problem.
Acht Tage bevor ein Mann sterben wird und die Gerüchte beginnen und alles andere auch, verteilt sich das Virus im Dorf, versteckt in einem Weihnachtslied in Moll.
Oh mummy dear on christmas day
Again I must complain
I wonder is it Santa Claus
Who makes mistakes again
Ein Samstag, 6. November, neun Uhr. In Rathen, Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, sitzen 35 Männer und Frauen auf Stühlen in zwei Halbkreisen, mindestabstandskonform auseinandergerückt, so erzählen sie es später. Eine unter 25, andere über 80 Jahre alt. In ihrer Mitte, am schwarzen Yamaha-Flügel, ein Herr mit Brille, Wellen in den Haaren, Tenorstimmlage: der Chorleiter. Zusammen wollen sie im Dezember im Seniorenheim singen, auf dem Weihnachtsmarkt und im Gottesdienst. 20 Stücke sollen es werden. Dafür proben sie heute.
Stille Nacht, heilige Nacht. Ich brach drei dürre Reiselein. Im Dunkeln naht die Weihnacht.
Jede Sängerin, jeder Sänger habe seinen festen Platz gehabt, eigene Notenblätter. Im 45-Minuten-Takt hätten sie Pause gemacht, alle Fenster geöffnet, gelüftet, querkreuzüberunter, so sagt es die Frau des Chorleiters. Auch beim Mittagessen, Gulasch und Nudeleintopf, seien sie einander ferner als sonst geblieben. Das Hygienekonzept habe der Bürgermeister abgenommen, lange vor diesem Wochenende.
Und die allermeisten seien ja auch geimpft gewesen, die wenigen Ungeimpften schnellgetestet. Alle, so zumindest werden sie es später erzählen, wirkten gesund. Am Sonntag treffen sie sich ein zweites Mal zum Üben. Am Montag die ersten Symptome.
Am 23. November, gut zwei Wochen später, liegt die Inzidenz in Rathen bei 4584,5. Das Chorwochenende, da sind sie sich sicher im Ort, war der Grund dafür.
Ein kalter Dezembermorgen, fast einen Monat nach dem Ausbruch. Im Nebel sieht Rathen aus, als habe man die Farben aus der Landschaft und den Häusern gezogen. Mittlerweile sind 71 Menschen im Dorf infiziert. Von 349 Einwohnern. Ein Fünftel.
Eine Woche zuvor, am 24. November, lag die Inzidenz hier bei 4871,1. Der höchste Wert Deutschlands.
Im Gemeindesaal, in dem sie vor vier Wochen noch sangen, sitzt nun ein grauhaariger Mann und zieht die OP-Maske unters Kinn. Er sucht nach Erklärungen. Vielleicht auch nach Entlastungen. Er sagt: "Das liegt einfach daran, dass wir so wenige Einwohner haben." Er sagt auch: "Unser Altersschnitt ist sehr hoch." Und: "Die meisten sind geimpft, es gab keine tragischen Fälle." Der Mann heißt Thomas Richter. Er ist der Bürgermeister von Rathen. Von dem Toten sagt er nichts.
Rathen, gelegen im Tal, umrahmt von abgerundeten Sandsteinfelsen, Caspar-David-Friedrich-Natur. Bei der Bundestagswahl bekam die AfD hier 27,1 Prozent der Stimmen. Einer der niedrigsten Werte im Landkreis. Kein Sachsen-Klischee, sondern Luftkurort, seit 1933, der Tourismus ist die wichtigste Einnahmequelle. Mehr Gästebetten als Einwohner, Fachwerkhäuser, auf denen "Pension" steht, Hotels am Ufer der Elbe. Der Fluss teilt das Dorf in Nieder- und in Oberrathen, eine fließende Grenze von jeher. Es gibt keine Brücke, die beide Ortsteile verbindet, nur eine Seilfähre, sie hat keinen Motor, arbeitet mit der Strömung. Auf den Straßen kaum Menschen. Im Sommer muss man manchmal anderthalb Stunden anstehen, um auf die Fähre zu kommen. Jetzt steht niemand am Anleger. Rathen liegt da wie betäubt und vergessen. Auf einer Tafel vor dem Dorfimbiss steht: "Geschlossen bis ???"
In Rathen, das wird schnell klar, war jeder, mit dem man spricht, entweder selbst schon infiziert, ist gerade in Quarantäne oder hat einen direkten Familienangehörigen, der das Virus in sich trägt. Die höchste Inzidenz Deutschlands, das bedeutet auch: Nirgendwo sonst ist gerade, statistisch gesehen, das Risiko, sich mit Covid-19 anzustecken, so hoch wie hier. Als die Inzidenzkarten eingeführt wurden, bekamen Orte mit einem Wert von über 50 die Farbe rot. Über 4.800, das ist selbst für das notorische Hochinzidenzgebiet Sachsen eine krasse Zahl. Das ist ultra-ultraviolett.
Warum die Hotspots dieser Welle schon wieder im Osten und Südosten des Landes liegen und wie sehr die Situation die Menschen dort belastet, spaltet und beschäftigt, das lässt sich in Rathen vielleicht auch besser nachvollziehen als anderswo in Deutschland. Man muss den Menschen im Dorf nur zuhören. Nicht jeder will mit Namen auftauchen. Reden wollen fast alle.
Der Souvenirshopbetreiber: "Ich darf nicht mehr hingehen, wo ich will, mich nicht mehr treffen, mit wem ich will. Wie in der DDR. Hier findet eine Treibjagd auf Ungeimpfte statt."
Der Restaurantbesitzer: "Meine Frau hat’s gehabt, von meinen Kumpels haben es grad alle. Wir sind da relativ entspannt, das dauert schon mal drei Wochen, aber ist besser, als sich mit dem Impfzeug vollzupumpen."
Die Restaurantbesitzerin: "Die beste Immunisierung ist, die Krankheit durchzumachen."
Die Besorgte: "Ich bin krank, hatte Gaumenkrebs. Wenn ich nicht muss, gehe ich nicht raus. Ich möchte keinem mehr begegnen. Was traurig ist, denn sonst spricht man hier jeden an und redet. Jetzt ist nur noch Langeweile."
In der gesamten Sächsischen Schweiz und im Erzgebirge steigen seit Wochen die Ansteckungen. Eigentlich dachte man, das Virus wüte vor allem in den Städten, dort, wo die Leute enger beieinanderleben, wo sie sich im Hausflur begegnen, zusammen im Restaurant sitzen, mit dem Bus nach Hause fahren. Doch in ganz Sachsen, so hört man aus dem Landratsamt, breite sich das Virus besonders in den kleinen Ortschaften aus. In den Dörfern. Weil dort Maßnahmen schwerer zu kontrollieren sind. Und wegen des Vereinslebens.
Die Rathener sind stolz auf ihre Dorfgemeinschaft. Es gibt die Bogengilde, den Sportverein, die Freiwillige Feuerwehr, einen Kleingartenverein, einen Schifferverein. Aber kein Verein sei so aktiv wie der Chor, sagt Axel Langmann. Er ist der Leiter, seine Frau Claudia die Vorsitzende. Mindestens einmal die Woche singen sie zusammen. Und mindestens einmal im Jahr proben sie ein ganzes Wochenende lang. So wie am 6. November. Danach sind 20 von 35 Menschen krank. Und ab da werden es noch mehr werden.
Der Chorleiter: "Im Nachhinein ist man immer schlauer. Das sollte man lassen, im Nachhinein schlauer sein zu wollen. Wir haben uns an die Regeln gehalten, wir waren vorsichtig genug."
Vor dem Fenster das Tal, ein Bach. Der Chorleiter sitzt in einem Anbau hinter dem Wohnzimmer, vor einem Orchester aus Holzengeln, gerade erst ist er aus der Quarantäne, auf einem Tisch liegt noch ein angefangenes Puzzle. Ein Gemälde von Van Gogh, das Meer bei Saintes-Maries. Es zeigt ein Segelschiff in hohen Wellen.
Er hustet, räuspert sich zwischen seinen Sätzen, der Reizhusten, der sei hängen geblieben, leider, aber nicht so schlimm. Er und seine Frau infizierten sich beide an dem Chorwochenende. Leichte Verläufe, kein Problem. Sei ja nicht so, dass sie Corona nicht ernst nehmen würden, sie seien geimpft, so wie 95 Prozent im Chor. Und nun, nach der Infektion, "preiswert geboostert", sagen sie, scherzhaft. Auch die anderen Mitglieder seien jetzt eher froh, eher der Meinung: Wir haben es nun einmal durch. "Das kann man sagen, weil es keinen kritischen Fall gab", sagt der Chorleiter dann. Weil nichts Schlimmeres passiert sei, weil es nur milde Verläufe gegeben habe.
Milde Verläufe gibt es. Aber die mit Folgeerkrankungen gibt es auch.
Drüben, auf der anderen Elbseite in Oberrathen, sitzt Stefan Wegner in seinem Behandlungszimmer und öffnet ein Foto auf seinem Handy, er hat es erst an diesem Tag aufgenommen: ein Schild, 2G steht darauf, rot umkreist und durchgestrichen. Das hat er fotografiert bei jemandem, der dahinter, in seinem Haus, nach Luft rang.
Der Arzt, 36 Jahre alt, ein drahtiger, sportlicher Typ, arbeitet gerade so viel wie noch nie, kümmert sich fast nur noch um Menschen mit Covid, für die anderen ist kaum noch Zeit. Routinesachen und Check-ups sind abgesagt, und in einer nahen Klinik sind auch schon zwei Krebsoperationen verschoben worden diese Woche. Latente Triage. Von zehn Menschen, die zu ihm kommen, würden sechs bis acht positiv auf das Virus getestet.
Wegner hat die Praxis von seinem Vater übernommen. An diesem Tag trägt er beigefarbene Hose und blaues Shirt, eigentlich hat er Urlaub. Aber er fühlt sich verpflichtet weiterzumachen. Er impft jetzt auch an Samstagen. Jeden, den er kriegen kann.
Wie hoch die Quote in Rathen ist, dazu gibt es keine Auskunft, doch im Landratsamt schätzt man: wahrscheinlich so 60 Prozent, wie in ganz Sachsen. Der Arzt sagt, von 15 Corona-Patienten, die er behandele, sei im Schnitt nur einer geimpft. Fast unmöglich für ihn, in Rathen noch Haushalte zu benennen, in denen es noch keinen Corona-Fall gegeben hat.
Der Arzt: "Für uns ist diese Welle heftiger als je zuvor. Früher waren Hausbesuche bei nicht mobilen, älteren Patienten notwendig. Jetzt fahren wir auch zu 50- bis 60-jährigen Männern, die Corona haben und es nicht mehr in die Praxis schaffen."
Wenn Wegner etwas von "milden Verläufen" hört, dann sagt er: Klar, gibt es. Aber es gebe auch alle Folgeerkrankungen, die man so kenne: Lungenembolie, Luftnot, Fibrose, Belastungsluftnot nach Corona. Und junge Menschen auf der Intensivstation, die beatmet werden müssen. "Umpf umpf umpf umpf", sagt der Arzt und macht mit der Hand die pressende Bewegung der Maschine nach. Das sei nicht schön anzusehen.
Und kürzlich, da habe es auch einen Todesfall gegeben. Den ersten in dieser Welle. Ein Mann, über 80 Jahre alt, aber kein Pflegefall. Der Arzt nennt den Namen des Toten nicht. Aber im Dorf kennt ihn jeder.
Das Haus steht am Ortsrand, auf der Oberrathener Seite, fast so, als habe jemand im Nachhinein noch etwas dazugeworfen und nicht gut gezielt. Es ist eines der ältesten in Rathen, gebaut in den 1860ern, groß, Platz für Ferienwohnungen. Im Moment übernachten keine Touristen im Ort, doch auf dem Holzschild neben der Tür steht: belegt.
Die Ehefrau öffnet die Tür. Schwarze Kleidung, nein, es sei alles zu frisch, sie wolle nicht sprechen. Vor ein paar Monaten noch haben sie Goldene Hochzeit gefeiert, wenig später seinen Geburtstag, mit der Familie im kleinsten Kreis. Er sei vorsichtig gewesen, bis zum Schluss. Tränen treten in die Augen der Ehefrau. Sie schließt die Tür.
Thorsten Koch wird kurz nach seinem Geburtstag krank. Als er ins Krankenhaus fährt, sagt er: "Bis die Tage!" Dann ist er weg
Im Dorf sagen sie, ihr Mann sei gar nicht an Covid-19 gestorben. Doch jene, die es wissen müssen, sagen: Corona, ganz sicher.
Die Rentnerin: "Nein, das war kein Corona. Er hatte ein gewisses Alter erreicht und war schon vor Jahren krank. Der ist an Nierenversagen gestorben. Das habe ich aus bester Quelle gehört."
Schnee liegt im Tal und auf den Häusern am Berghang, auf den Tannen und den Gipfeln der abgerundeten Felsen. Alles ist noch stiller als sonst, wirkt noch gedämpfter. Auf einem Feld vor der Elbe steht Sarah Rohland mit ihrem Kinderwagen. 24 Jahre ist sie jung, Sohn Jasper hat ihre blauen Augen, sie: braune Haare, eingewickelt in einen roten Schal, Winterjacke, Leggings, Winterschuhe. Aus ihrer Familie wollte niemand über den Tod ihres Großvaters sprechen, niemand außer ihr. Rohland will etwas klarstellen. Deswegen hat sie einem Treffen zugestimmt.
Die Enkeltochter: "Doch, mein Großvater ist an Corona gestorben. Nierenversagen, ja. Aber ausgelöst durch Corona. Er war gesund, er ist viel Fahrrad gefahren, er hatte ein gutes letztes Jahr. Er konnte sich selbst versorgen, hat viel am Haus gemacht. Leute getroffen hat er nicht. War lieber mit der Familie, dem Urenkel."
Im Dorf reden die Leute über sie. Das weiß Rohland. Leugnen, dass ihr Großvater Corona gehabt habe. Und wenn doch, dann sei sie schuld. Soll das Virus nach Oberrathen gebracht, ihren Großvater infiziert haben. Doch so sei es nicht gewesen, sagt Rohland.
Beim Chorwochenende sang sie mit, Sopran, ihre Leidenschaft. Angesteckt hat sie sich nicht. Infiziert habe sie aber auch niemanden, sagt sie, denn sie war nie positiv, seit sie selbst an Covid-19 erkrankt war, vor einem Jahr. Außerdem sei sie an jenem Wochenende doppelt geimpft gewesen, an diesem Morgen erst bekam sie den Booster von Doktor Wegner.
"Er hätte schon noch ein paar Jahre leben können", sagt Rohland über ihren Großvater, der Ende Oktober ins Krankenhaus kam. Der Corona-Test negativ, der Arzt aber sagte: Sieht nach dem Virus aus. Lungenentzündung. Der Großvater durfte wieder nach Hause. Dann verschlechterte sich sein Zustand erneut. Nun war der PCR-Test positiv. Er starb am 14. November.
Für die Beerdigung hat die Enkeltochter ein Stück komponiert. Klavier, vierhändig, der Cousin begleitet sie. Es hat noch keinen Namen. Vielleicht, sagt sie, werde sie es "Opi" nennen. Es ist ein Lied ohne Gesang.
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