Acht Menschen starben bei einem Corona-Ausbruch im Pflegeheim Hog'n Dor in Norderstedt bei Hamburg. Hartmut Feddersens Bruder war einer von ihnen. Seitdem sucht Feddersen nach Antworten, auch die Staatsanwaltschaft ermittelt: Wie kam das Virus in das Heim?
Jeder neue Tag beginnt für Hartmut Feddersen um halb drei Uhr nachts. Dann wacht Feddersen auf, es ist die Zeit, in der das Krankenhaus ihn vor mittlerweile vier Wochen anrief. Als man ihm mitteilte: Ihr Bruder liegt im Koma. 90 Minuten später war Manfred gestorben.
An oder mit Covid-19. So heißt es dann. Manfred Feddersen war einer von acht Bewohnern des Hauses Hog´n Dor, die nach einem Corona-Ausbruch verstarben. 80 Jahre alt, herzkrank, ein bisschen vergesslich vielleicht schon. Aber noch lange nicht dem Tode nah, eigentlich. Feddersens Pflegeeinrichtung liegt in Norderstedt, einer Stadt in Schleswig-Holstein, dicht an der Hamburger Landesgrenze. Wer den Ausbruch dort rekonstruiert, merkt schnell: Der Fall ähnelt dutzenden anderen in der Bundesrepublik in diesem Herbst. Pflegeeinrichtungen, in denen Corona ausbricht, etliche Bewohner infiziert, manche tötet.
In den Alten- und Pflegeheimen zeigt sich die Wucht der vierten Welle verstärkt. Denn alte Menschen schützt die Impfung weniger stark als junge. Und nach wie vor ist das Virus für sie tödlicher. Nistet es sich erst einmal ein in einer der Pflegeeinrichtungen, verbreitet es sich oft rasant, wie ein wuchernder Tumor, durchs ganze Haus. Angehörige und vielerorts auch Staatsanwaltschaften fragen sich danach: Hätte man das nicht verhindern können? Haben wir denn nichts gelernt? Wo war die Lücke?
Mitte Oktober, gut eine Woche vor dem Tod von Feddersens Bruder, gibt der Landkreis Segeberg die erste Pressemitteilung zu dem Ausbruch heraus:
In der Norderstedter Senior*innen- und Pflegeeinrichtung Haus Hog'n Dor gibt es einen Corona-Ausbruch. Von den insgesamt 76 Bewohner*innen sind aktuell 60 infiziert. […] Von den insgesamt rund 70 Mitarbeiter*innen sind derzeit 15 nachweislich mit Corona infiziert. Mehr als die Hälfte der Infizierten ist nicht geimpft.
In den nächsten Wochen wird die Pressestelle ein gutes Dutzend dieser Pressemitteilungen schreiben. Insgesamt acht Menschen sterben, 68 von 76 Bewohnern infizieren sich, 23 von 70 Mitarbeitern, das Haus wird dichtgemacht, die automatische Schiebetür verschlossen, Isolation aller Bewohner. Die Hälfte der infizierten Mitarbeiter ist ungeimpft, aber insgesamt nur zwei der Senioren; unter ihnen liegt die Impfquote bei 95%.
Zu Beginn des Monats waren in der Einrichtung Einzelfälle bekannt geworden. Nachdem die Anzahl der Infizierten im Verlauf der vergangenen Woche zunahm, veranlasste der Infektionsschutz des Kreises eine Testung aller Bewohner und Mitarbeiter. Die Ermittlungen, auch dazu, wie es zu dem Ausbruch kommen konnte, dauern an.
Zu dem Zeitpunkt weiß Hartmut Feddersen noch nichts von dem Corona-Ausbruch, die Lokalzeitung liest er nicht, das Heim ruft ihn nicht an. Er erfährt davon erst, als sein Bruder ins Krankenhaus eingeliefert wird, am 19. Oktober um 16.30 Uhr. Noch am Mittag hatte sich Feddersen telefonisch bei einem Pfleger der Station zum Zustand seines Bruders erkundigt, man sagt ihm: Alles super, geht ihm gut. Knappe drei Stunden später wird Feddersens Bruder mit hohem Fieber und Atembeschwerden ins Krankenhaus gebracht. Feddersen fragt sich: Wie kann das sein? "Man wird doch nicht innerhalb von drei Stunden schwer krank", sagt er. Feddersen glaubt, dass das Heim ihn belogen hat. Ihn mindestens um die Aussage betrogen, dass sein Bruder mit Corona infiziert war. Hartmut Feddersen treibt das bis heute um. Er will wissen, warum ihn das Heim nicht informiert hat.
Deshalb geht er an diesem grauen Montagmittag wieder in sein Wohnzimmer, das er gerade sein "Büro" nennt. Feddersen sitzt dort zwischen dem, was übrig bleibt von einem geliebten Menschen: Sterbeurkunde neben der Geburtsurkunde, Scheidungspapiere, Unterlagen vom Bestatter, Fotos, so viele Fotos. Das letzte zeigt den Bruder auf seinem Bett im Pflegeheim, das war zu seinem 80. Geburtstag. Ein weißhaariger, beleibter Mann, der Stabilität ausstrahlt, Ruhe, Stolz, leichten Witz in den Augen. Neben dem Foto das Telefon von Hartmut Feddersen, ein Heft mit hastig hingekritzelten Notizen. Er notiert sich alles, was er herausbekommt bei seinen Anrufen, bei der Kripo, der Heimaufsicht, der Gerichtsmedizin. Er gehe immer einfach geradeaus, sagt er, frage überall nach. "Es bleibt trotzdem für einen Teil unbegreiflich alles, es ist so, ja, nicht fassbar, nicht tastbar." Feddersen greift mit beiden Händen in die Luft, als er das sagt. Auf den Fotos sieht man Feddersen als fröhlichen Menschen mit durchgedrückter Brust – hinter den Unterlagen blickt ein graues Gesicht hervor, tiefe Furchen darin, 74 Jahre alt, mit grauem Bürstenhaarschnitt.
Ein aufgeschlagener Kalender liegt auch auf dem Tisch, der hilft Feddersen, die Übersicht zu behalten. Im Feld für Sonntag, den 24. Oktober, hat er nur zwei Zeilen geschrieben:
4:15 Uhr
Manfred eingeschlafen
Als Feddersen den Eintrag vorliest, bricht seine Stimme. Er kämpft mit den Tränen, wenn er erzählt, immer wieder muss er innehalten. Feddersen deutet auf sein Herz: "Hier drin, da tut das weh." Feddersen konnte sich nicht verabschieden. Durfte seinen Bruder nicht mehr sprechen, nicht besuchen, seit der ins Krankenhaus kam. "Damit habe ich unwahrscheinlich zu kämpfen. Wir haben mal gezofft, na klar, aber wir waren Brüder. Er konnte nicht ohne mich und ich konnte nicht ohne ihn."
Sein anderer Bruder sagt, er solle sehen, dass er das zum Abschluss kriege, dass er selber zur Ruhe komme. Aber Feddersen kann nicht, nicht einfach so. Mit seiner Rastlosigkeit wirkt er wie jemand, der nicht akzeptieren kann, was passiert ist. Seine Suche nach Antworten ist auch die Suche nach der Frage: Warum musste sein Bruder sterben?
Die Staatsanwaltschaft Kiel untersucht den Ausbruch mittlerweile. Weil es aber bisher keinen konkreten Verdacht gegen eine bestimmte Person gibt, ermittelt sie in einem sogenannten Todesermittlungsverfahren. Oberstaatsanwalt Axel Bieler will wissen, wie es zu dem Ausbruch kommen konnte. Er ist auf der Suche nach Patient Zero. Und noch mehr: Ob dieser Patient Zero das Virus wissentlich ins Heim schleppte, ob er seine Sorgfaltspflicht fahrlässig oder womöglich sogar gewollt verletzt hat und daher strafrechtlich belangt werden kann. Würde die Person gefunden, drohte ihr ein Strafmaß, das von einem Bußgeld bis zu fünf Jahren Gefängnis reicht. Fraglich, ob eine solche Person aber tatsächlich identifiziert werden und der Fall zur Anklage gebracht werden kann, das gibt auch Bieler zu. Er hat immerhin ein paar Anhaltspunkte, die ihn skeptisch machten, erzählt er am Telefon: Jemand aus dem Sozialministerium hatte behauptet, dass eine infizierte Mitarbeiterin mit Corona noch einmal in das Heim gegangen sei. Dazu kommt die Frage: Wenn das Heim seine Hygienevorschriften tatsächlich eingehalten hat – wie konnte dann das Virus hinein kommen?
Mit den Angaben von Gesundheitsamt, Staatsanwaltschaft, Heimaufsicht und Angehörigen lässt sich in etwa dieser Zeitstrahl rekonstruieren: Schon am 16. September war eine ungeimpfte Mitarbeiterin aus dem Haus Hog´n Dor positiv auf das Coronavirus getestet worden. Also einen ganzen Monat, bevor der Landkreis die erste Pressemeldung herausgab. Die Mitarbeiterin hatte zuletzt im August in der Einrichtung gearbeitet, das Gesundheitsamt geht von keinem direkten Bezug zum Ausbruchsgeschehen aus. Ansteckungen könnte es höchstens über private Kontakte gegeben haben. Am 6. Oktober wurde eine zweite ungeimpfte Mitarbeiterin positiv getestet, die am Tag vorher noch im Heim gearbeitet hatte. Wenige Tage danach tauchten die ersten positiven Fälle bei Bewohnern auf. Das Gesundheitsamt isolierte und testete erst die unmittelbaren Kontaktpersonen. Dann, heißt es, habe sich das Virus "explosionsartig" verbreitet, Bewohner aus dem ganzen Haus seien symptomatisch gewesen. Laut Gesundheitsamt könne man deshalb nicht von den beiden ersten Infizierten als einziger Ursache des Ausbruchs ausgehen. Aber wieso wurden erst am 15. Oktober alle Mitarbeiter und Bewohner des Hauses getestet? Christian Herzmann, Leiter des Gesundheitsamts, verweist auf das übliche Verfahren, das vorsieht, zuerst nur die direkten Kontaktpersonen zu testen. Anders sei der logistische Aufwand zu groß.
Doch noch eine zweite Frage bleibt. Denn das Hygienekonzept des Heims sah vor, dass ungeimpfte Mitarbeiter sich vor jedem Dienstantritt testen lassen mussten. Wie konnten dann so kurz hintereinander zwei infizierte und ungeimpfte Mitarbeiterinnen ins Heim gelangen? Möglich sind falsch negative Schnelltests. Aber eben auch, dass die beiden Mitarbeiterinnen doch gar nicht wie vorgeschrieben getestet wurden.
Christian Herzmann sagt, dass Kollegen auch mit Symptomen zur Arbeit gehen, sei womöglich nicht einmal böse Absicht – sie wollten schlichtweg ihre Kollegen entlasten. Er weist damit auf ein weiteres Problem hin, das durch die Corona-Ausbrüche deutlich wird, einmal mehr: Dass Pflege schlecht bezahlt und unterbesetzt ist, in vielen Einrichtungen Mitarbeiter fehlen. Gerne würde man mit den Heimmitarbeitern selbst sprechen. Nicht zuletzt darüber, dass womöglich politische Fehlentscheidungen nun auf ihren Rücken ausgetragen werden. Doch die meisten scheinen Angst zu haben. Von Schweigeverpflichtungen ist die Rede, davon, dass die Heimleitung Druck ausübt.
Es war eine Ermessensentscheidung des Oberstaatsanwalts, ein Todesermittlungsverfahren aufzunehmen. Und auch, wenn Bieler das abstreitet: Natürlich ist die Entscheidung damit politisch. Dass über die Ausbrüche diskutiert wird und über eine Impfpflicht für Pflegende, dass die Ampel-Koalition dafür vergangene Woche konkrete Pläne eingebracht hat, ist politisch.
Der Tod seines Bruders ist für Feddersen persönlich.
Wenn er im Heim anruft, wird er abgewimmelt
Die Mitarbeiter mache er nicht verantwortlich, sagt er. Wer das Virus wissentlich in das Heim geschleppt und acht Menschen umgebracht habe, der leide ohnehin genug, da brauche er keine rechtskräftige Verurteilung. Feddersen will bloß Antworten. Und natürlich will er eigentlich, dass sein Bruder noch lebt. Wenn er im Heim anruft, wird er abgewimmelt. "Sie könnten doch wenigstens sagen, es tut ihnen leid!". Auch dem stern gegenüber äußert sich die Leitung nicht. Auf Anfrage heißt es: keine Informationen, kein Kommentar. Dann wird der Hörer aufgelegt. Schriftliche Anfragen und die Bitte um ein Gespräch lehnt man ab.
Und so liegt Feddersen weiterhin ab halb drei Uhr wach, Nacht für Nacht. Sein Körper oder sein Kopf haben sich die Anrufzeit aus dem Krankenhaus gemerkt, glaubt er. Er liegt da und grübelt, wie er damals gegrübelt hat, nachdem der Anruf vom Krankenhaus kam. "Das hat auch damit zu tun, dass man nicht weiß, was ist wirklich gewesen. Das ist auch das, was mich innerlich so quält."
Feddersen erinnert sich an das letzte Gespräch mit seinem Bruder, damals, nur einen Tag, bevor der ins Krankenhaus kam, damals, als noch alles gut war oder zumindest so schien. Feddersen hätte sich gerne verabschiedet, aber das ging nicht, wie hätte er das tun sollen, wenn der Abschied durch nichts angekündigt war? In ihrem letzten Telefonat, sagt Feddersen, ging es um einen Rollator, den Manfred sich bestellt hatte. Um wieder besser durch das Heim zu schieben.
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