Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes über die Bezeichnung „Clan-Kriminalität", die fehlende Aussagekraft von behördlichen Statistiken - und Gefahren für die Demokratie in Deutschland.
Das war wohl eher ein PR-Gag ihrer Mitarbeitenden im Vorfeld der Wahl in Hessen. Ich halte das für einen ziemlichen Skandal, dass hier auf dem Rücken einer bestimmten Bevölkerungsgruppe versucht wird, Parteipolitik zu betreiben.
Würde das denn überhaupt funktionieren?Faeser muss vollkommen klar sein, dass für Abschiebungen Rechtsgründe vorliegen müssen. Das ist in der Regel erst der Fall, wenn tatsächlich von der abzuschiebenden Person Straftaten begangen worden sind. Außerdem muss es ein Land geben, in das abgeschoben werden kann. Viele Betroffene im Bereich der sogenannten „Clan-Kriminalität" haben keinen gültigen Pass, ihre Staatsangehörigkeit ist unklar oder sie sind staatenlos. Sie kann man nicht abschieben. Deshalb ist „Clan-Kriminalität" nur eine Schimäre, die allein dazu dient, populistische Interessen zu befriedigen.
Ist „Clan-Kriminalität" eine wissenschaftliche Kategorie?Eindeutig nein. Das Bundeskriminalamt hat für die Statistik eine Definition, die ich für höchst problematisch halte. Unter der Rubrik „Clan-Kriminalität" wird erfasst, wenn Menschen mit einem bestimmten Nachnamen Straftaten begangen haben. Dabei wird nicht zwischen Schwarzfahren oder Ladendiebstahl und Mord unterschieden. Zudem gibt es in der türkischen oder arabischen Kultur Nachnamen, ähnlich wie bei uns Müller, Meier oder Schulze. Die polizeiliche Kriminalstatistik hat zu diesem Komplex keine Aussagekraft. Stattdessen trägt sie dazu bei, eine Bevölkerungsgruppe zu stigmatisieren.
Das heißt, bei Menschen, die der „Clan-Kriminalität" zugerechnet werden, muss kein Verwandtschaftsverhältnis bestehen?Nach der polizeilichen Statistik nicht. Natürlich gibt es Kulturen, in denen der Familienzusammenhalt eine größere Rolle spielt. Aber das zur Grundlage für eine gezielte Strafverfolgung zu machen, halte ich für moralisch verwerflich und verfassungsrechtlich unzulässig.
Gibt es denn überhaupt ein reales gesellschaftliches Problem mit Kriminalität, die aus Familienstrukturen heraus entsteht?Kriminalität ist keine Frage des Passes oder der ethnischen Zugehörigkeit, sondern eine Frage der sozialen Lage. Das ist eine kriminologische Grunderkenntnis. Staatenlose Menschen, die entweder gar keine Staatsangehörigkeit haben oder deren Pass von den Behörden nicht anerkannt wird, sind in einer prekären sozialen Lage. Sie können einen Schulabschluss machen, aber spätestens bei Lehre oder Studium ist dann Schluss. Die Tatsache, dass ich staatenlos bin, verbietet mir, mich zu integrieren, ich falle auf die Großfamilie zurück. Natürlich gibt es auch in Großfamilien Personen, die straffällig werden - meist aber, weil deren Integration verhindert wurde.
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Thomas Feltes (72) war bis 2019 Professor für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Er forscht zur Polizei, zur Strafjustiz sowie zur allgemeinen Kriminologie und ist auch als Rechtsanwalt aktiv.
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Selbst diese statistischen Auffälligkeiten sind umstritten. Und wir haben bei allen, die sich in einer prekären sozialen Lage befinden, eine höhere Kriminalitätsrate, weil sie zum Beispiel von der Polizei eher kontrolliert werden, sich mehr in der Öffentlichkeit aufhalten und teilweise auf illegale Einkünfte angewiesen sind, weil sie keinen Zugang zu legalen Finanzierungsmöglichkeiten haben. Auch die Altersstruktur spielt eine Rolle. In welchem Maße diese Gruppierungen stärker kriminell werden als andere Personen, ist schwer zu sagen, weil die polizeiliche Kriminalstatistik hier sehr fehlerhaft ist. Darauf weist das BKA auch selbst hin. Die Zahlen sind in meinen Augen nicht verwertbar.
Ist eine Politik der harten Hand gegen vermeintliche „Clan-Kriminalität" der richtige Ansatz, wenn die Ursachen in der prekären sozialen Lage liegen?Die Polizei weiß sehr genau, dass die soziale Lage die Ursache für Kriminalität ist und sozialpolitische Maßnahmen wirksamer als repressive Strafverfolgung sind. Städte und Gemeinden, die sich hier engagiert haben, haben deutliche Verbesserungen bemerkt. Es braucht Hilfsangebote vom schulischen Bereich über aufsuchende Sozialarbeit bis hin zu erschwinglichen Wohnungen. Damit kann ich aber keine Politik machen. Die populistische Forderung nach härteren Strafen oder nach mehr Polizei gibt der Bevölkerung das Gefühl, dass schnelle Lösungen erzielt werden, obwohl das definitiv nicht der Fall ist.
Was müsste man stattdessen tun?Man müsste Kindern und Jugendlichen die Hand reichen und ihnen die Möglichkeit geben, sich zu integrieren, ihnen deutlich machen, dass es sich lohnt, in dieser Gesellschaft zu leben. Innenministerin Faeser macht stattdessen deutlich, dass man diese Gruppen auch im Wortsinn „ausgrenzen" will. Die polizeilichen Maßnahmen führen dazu, dass sich diese Gruppen weiter abschotten und dass Kinder und Jugendliche gar keine andere Möglichkeit haben, als sich innerhalb der Familie zu bewegen, wodurch sie automatisch kriminalisiert werden. Wir verbauen uns selbst den Weg für eine notwendige Integration. Diese Menschen bleiben auf Dauer hier. Wir können sie nicht alle abschieben, schon deshalb nicht, weil nur ein Bruchteil der Mitglieder von „Clanfamilien" tatsächlich straffällig wird. Wir müssen den anderen die Möglichkeit geben, sich zu integrieren, weil wir mit ihnen gemeinsam dieses Gemeinwesen, diese Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten gestalten müssen. Wir haben keine Wahl. Wer das nicht begreift, legt die Axt an unsere Demokratie.
Wie wirkt sich denn die Stigmatisierung konkret auf Mitglieder der betroffenen Familien aus, die im Zweifelsfall gar nicht kriminell sind? Sie können ja nicht verurteilt werden, wenn sie keine Straftaten begangen haben.Ich kann Ihnen den konkreten Fall eines meiner Mandanten schildern. Er hat einen sehr guten Realschulabschluss gemacht, bis dahin war sein Leben noch in Ordnung, von ein oder zwei kleineren Straftaten wie Schwarzfahren abgesehen. Das tritt aber bei allen Jugendlichen in diesem Alter auf. Als er dann eine Lehre machen wollte, ist er zweimal gescheitert, einmal wegen seiner Staatenlosigkeit und einmal, weil die Polizei wegen einer kleinen Straftat direkt bei seinem Arbeitgeber erschienen ist und der darauf keine Lust hatte, ihn weiter zu beschäftigen. Wir haben also eine doppelte Stigmatisierung, durch polizeiliches Handeln und durch fehlende Papiere oder fehlende Arbeitserlaubnis. Wenn ein 16-Jähriger dann jeden Tag mit seinen Freunden herumhängt und Langeweile schiebt, dann begeht er irgendwann jugendtypische Straftaten wie kleinere Einbrüche oder Sachbeschädigungen. Das Interessante ist: Er hat die Straftaten nicht mit seinem kriminell vorbelasteten älteren Bruder begangen, sondern mit seinen deutschen Freunden. Mein Mandant ist langsam auf die schiefe Bahn geraten und wegen seines Nachnamens irgendwann auf die Schiene „Clan-Kriminalität" gesetzt worden. Das bedeutete dann Strafverfolgung durch eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft und am Ende eine fünfjährige Freiheitsstrafe - für vier oder fünf Einbruchdiebstähle mit einem Schaden im unteren fünfstelligen Bereich. Wirtschaftsbetrüger, die Millionenschaden anrichten, werden zu Bewährungsstrafen verurteilt, wenn überhaupt. Mein Mandant ist in meinen Augen für die Gesellschaft auf Dauer verloren, weil man ihn auch im Gefängnis drangsaliert. Hier geht die Stigmatisierung dann weiter.
Inwiefern spielen rassistische Stereotype eine Rolle?Die Strafe wäre bei einem Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sicher anders ausgefallen. Es gibt einen latenten Rassismus in unserer Gesellschaft. Vorurteile führen dazu, dass Menschen als Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme herangezogen werden, deren Ursachen in ganz anderen Bereichen liegen. Das ist höchst gefährlich, weil wir gegenwärtig ohnehin eine gesellschaftlich brüchige Situation haben. Die Menschen sind aufgrund der Krisen der vergangenen Jahre - Finanzen und Renten, Klima und Heizung, Migration, Corona, Gesundheitssystem und andere mehr - hochgradig verunsichert. Politiker, die nicht begreifen, dass es dringend geboten ist, zu beruhigen und Brücken zu bauen, statt Brücken zu zerstören, unterstützen diejenigen, die unsere Demokratie abschaffen wollen. Sie legen die Axt an die Grundprinzipien unseres Gemeinwesens.
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Die Redaktion der Frankfurter Rundschau hat den umstrittenen Begriff „Clan-Kriminalität" intern umfassend diskutiert. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass er politisch missbraucht wird und Menschen stigmatisiert. Deshalb werden wir die Bezeichnung nur in Ausnahmefällen verwenden - nämlich wenn wir über Polizeieinsätze und politische Debatten berichten, in denen die Kategorie zentral ist.
Um uns von der falschen und gefährlichen Rhetorik zu distanzieren, setzen wir von nun an den Begriff in Anführungszeichen oder machen das mit sprachlichen Formulierungen wie sogenannte Clan-Kriminalität deutlich. Die Redaktion
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