Die Zeiten, in denen Google im Netz der gute Cop war, sind vorbei. Der Konzern lässt sich nur noch von Profitinteressen leiten. Der jüngste Schachzug gilt gar als Generalangriff auf das freie Internet.
Der Traum von einem Internet als Ort einer demokratischen, egalitären Vernetzung von Menschen und ihren Rechnern, vom herrschaftsfreien Austausch von Daten, Informationen und Meinungen, ist ausgeträumt. Diesen Zustand beklagen mittlerweile nicht mehr bloß Nerds und Technikfreaks, sondern auch die breite Öffentlichkeit schöpft Verdacht - vor allem dann, wenn einer der großen Digitalkonzerne online mal wieder einen neuen Claim abstecken und ausbeuten will.
Jüngster Protagonist dieses Genres der kapitalistischen Brandrodung im freien Internet ist Google - mit einer Idee, die Haare zu Berge stehen lassen kann: „Web Environment Integrity", eine Schnittstelle, mit der Betreiber von Webseiten überprüfen könnten, mit welchem Webbrowser die Seite angesteuert wird. Was harmlos, ja gar nach mehr Sicherheit und Verlässlichkeit klingt, wird von Fachleuten, Netzaktivist:innen und anderen Tech-Firmen als „Generalangriff auf das freie Internet", als „Mechanismus zur Einschränkung der Wahlfreiheit", schlicht als „schlechte Idee, die Google nicht weiterverfolgen sollte", bezeichnet.
Bei der Nutzung von Browsern fallen viele Daten anWebbrowser ermöglichen den Zugang zum Internet ohne technisches Vorwissen. Lange beherrschte Microsoft mit seinem „Internet Explorer" hier den Markt. Vorinstalliert auf allen Windows-Rechnern war das Programm der bequemste Weg ins Netz. Von vielen für Langsamkeit und Fehleranfälligkeit verlacht, musste der Internet Explorer aber irgendwann das Feld räumen. Der mit Abstand meist genutzte Browser ist heute „Google Chrome", entwickelt von Google. Doch daneben gab und gibt es viele andere Anbieter, die alle etwas andere Funktionalitäten bieten, um dasselbe Ziel zu erreichen: das Internet.
Bei der Nutzung von Browsern fallen Unmengen an Daten an. Von welchem Gerät wird gesurft? Wo ist der Rechner mit dem Internet verbunden? Welche Webseiten werden angesteuert und was wird dort unternommen? Einige dieser Daten sind unabdingbar, wenn der Zugang zum Netz funktionieren soll. Doch Konzerne wie Google oder Microsoft haben ein wirtschaftliches Interesse an viel mehr Daten - darunter auch solche, die nicht unbedingt für das Funktionieren des Browsers nötig sind. Mit diesen Daten können sie Menschen eindeutig identifizieren, Werbeanzeigen zielgerichteter und damit teurer ans Zielpublikum ausspielen, sie können die Daten weiterverkaufen oder im eigenen Haus ihre KI-Anwendungen trainieren.
Datenschutz im Netz ist für viele Menschen essenziellFür viele Menschen gibt es gute Gründe, das nicht zu wollen. Wer in einer Autokratie lebt, surft vielleicht gerne unerkannt auf ausländischen Nachrichtenseiten oder Foren der Opposition. Wer in einer Demokratie allzu sehr auf die Nerven geht, Klimaaktivist:innen, Journalist:innen, die geheime Dokumente veröffentlichen, Whistleblower, Asylsuchende, hat vielleicht auch ein anderes Bedürfnis nach Privatsphäre. Und wer die fortschreitende Kapitalisierung des Internets einfach nicht hinnehmen will, sich für Freiheit bei der Nutzung von Technik einsetzt und sich der gesellschaftlichen Langzeitfolgen von massenhafter Datensammlung bewusst ist, plädiert womöglich auch für mehr Schutz der persönlichen Daten.
All diese Menschen sind mögliche Kundschaft für alternative Browser. Es gibt solche, die helfen, die eigene Identität zu verschleiern, die weniger Daten sammeln und weitergeben, die transparenter mit ihren Funktionen umgehen, weil sie ihren Quellcode veröffentlichen. Es gibt Browser, die es Nutzer:innen erlauben, die Software zu verändern und an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, sogenannte Freie Software. Mit dieser Art von Browsern lässt sich viel weniger Geld verdienen, die Anbieter handeln oft aus Idealismus. Sie kämpfen gegen das, was aus dem Internet geworden ist: ein Marktplatz.
Kampf für Freie Software ist Kampf ums InternetAus Freier Software ist mittlerweile eine zivilgesellschaftliche Bewegung geworden. Denn die Sache mit dem Internet war einmal ganz anders gedacht. Die Idee war genial. Technische Standards und Protokolle, auf die sich alle einigen können, machen es möglich, dass unterschiedliche Geräte, Software, Sprachen, Kulturen, miteinander kommunizieren können, sich vernetzen, sich austauschen, voneinander lernen. Die Infrastruktur steht bereit, an allem anderen kann munter gebastelt werden. Die gesellschaftliche Sprengkraft dieser Idee versteht sich von selbst.
Nun gibt es keinen Grund zur Idealisierung des frühen Internets. Das Geld für das Theater kam vom US-Militär, wo auch die ersten Prototypen entstanden. Dort hatte man selbstredend anderes im Sinn als die Demokratisierung des Wissens, Bildung, Austausch. Ein Grund mehr, warum der Netzaktivismus allem Staatlichen im Internet seit jeher äußerst reserviert gegenüber steht.
Konzerne wie Google wollen am Internet vor allem Geld verdienenDoch nicht nur Staat und Militär haben das große Potenzial der Technik entdeckt. Auch das Kapital klimpert mit Dollarzeichen in den Augen angesichts der heraufziehenden neuen Märkte. Die arme Technik kann sich nicht wehren gegen das, was Menschen mit ihr machen. Und so ermöglicht es das Internet mit all seinen offenen Standards und Protokollen Konzernen wie Google, die Digitalisierung jedes Winkels des menschlichen Lebens und Erlebens voranzutreiben, um dann in der Online-Welt das letzte bisschen Knete aus uns, unseren Daten und unserer digitalen Wertschöpfung herauszupressen.
Dabei ist die Rolle der Konzerne durchaus ambivalent. Denn dass die frühen Tages des Internets hauptsächlich von weißen, heterosexuellen Männern geprägt waren, hat natürlich einen Grund. Sie hatten Zugang zu technischem Wissen und ausreichend Selbstvertrauen, am großen Menschheitsprojekt mitzuwirken. Sie hatten Frauen rechtzeitig aus der Welt der Computer verdrängt, sobald klar wurde, dass Programmierung nicht bloß routinemäßige Fleißarbeit bleiben würde, sobald klar wurde, welches Potenzial aus der neuen Technik erwachsen würde, wenn man die Maschinen auch noch miteinander verbindet. Weiße Männer beherrschten die technischen und die Diskursräume.
Nicht-kommerzielle Produkte können mit dem kapitalstarken Google nicht mithaltenKonzerne wie Microsoft und Google hatten da selbstverständlich etwas mehr Interesse an Diversität. Nicht in erster Linie aus Menschenfreundlichkeit, auch wenn das frühe Google mehr oder weniger glaubwürdig dem Leitspruch „Don't be evil", also „Sei nicht böse" folgte. Vielmehr ging es darum, die eigenen Produkte an ein größeres Zielpublikum verkaufen zu können. Sie entwickelten Benutzeroberflächen, erleichterten Bedienung und senkten die Hürden. Das konnten sie, weil sie schon früh über genügend Geld verfügten, um sich den Luxus der Benutzerfreundlichkeit ihrer Anwendungen zu leisten.
Nicht-kommerzielle Nischenprodukte mit offenem Quellcode, aus purem Idealismus programmiert, konnten da oft nicht mithalten. Wer aus Überzeugung weniger Daten verscherbelt und nicht auf Patente pocht, hat weniger Geld für die eigenen Produkte. Ohne vergleichbar viel Kapital beschränkten sich die freien Anwendungen oft auf das Minimum, um Funktionalität zu gewährleisten - und setzten technisches Wissen voraus. Auch abseits der finanziellen Seite erschließen sich die Freiheiten, die diese Idee von Technik garantieren sollen, vor allem den Menschen, die schon digital alphabetisiert sind. Gerade die, die auf sichere Kommunikation im Netz angewiesen wären, weil sie von Verfolgung oder Diskriminierung betroffen sind, fanden oft keinen Zugang.
Freie Software schmälert Googles ProfitDoch das kritische Bewusstsein wächst. Die Menschen warten nicht mehr darauf, dass weiße Männer ihnen die Anwendungen bauen, die sie brauchen. Sie eignen sich die Technik selbst an und suchen Schlupflöcher in ein Internet, dass immer mehr von Google beherrscht wird.
All das ist natürlich nicht im Interesse des Riesenkonzerns. Ihm geht potenzielle Kundschaft verloren und damit Geld. Im Grunde kann Google nichts dagegen unternehmen. Wir erinnern uns: Das Internet setzt sich aus offenen Standards und Protokollen zusammen, an die sich theoretisch jede und jeder andocken kann, um Google das Wasser abzugraben.
Ein Standard für Google könnte ein Standard für alle werdenDoch es gibt einen Haken. Wenn ein Akteur im Netz erstmal eine gewisse Marktmacht erreicht hat, werden Standards, die man für die eigenen Anwendungen einführt, plötzlich zum allgemeinen Standard für alle. Denn Google bietet neben einem Browser auch noch eine Suchmaschine, einen Kartendienst, die Videoplattform Youtube, einen Mailing-Dienst und unzählige andere Webanwendungen an, die für viele Menschen im Alltag mittlerweile unverzichtbar sind. All diese Anwendungen sind natürlich nur mit Googles hauseigenem Browser optimal nutzbar. Browser, die zu stark von Googles Standards abweichen, können das Nutzungserlebnis zu einem Spießroutenlauf machen.
Und nun also die Web Environment Integrity - eine Google-Entwicklung. Kein Browser-Anbieter muss die neugeschaffene Schnittstelle nutzen. Doch Anbieter von Webseiten könnten ein Interesse an der Schnittstelle haben. Sie könnten damit sicherstellen, dass nur echte Menschen ihre Angebote nutzen, dass niemand in einem Online-Spiel betrügt, niemand massenhaft falsche Rezensionen zu einem Produkt schreibt, niemand Fake-Accounts in sozialen Netzwerken anlegt. Alles berechtigte Anliegen, bei denen Googles Schnittstelle theoretisch Abhilfe schaffen könnte. Doch die Abwägung zwischen diesen Anliegen und der Freiheit und Anonymität der Nutzer:innen ist keineswegs selbstverständlich.
Ohne Wahlfreiheit beim Browser ist Anonymität im Netz in GefahrDenn Anbieter von Webseiten könnten auch entscheiden, dass man nur noch auf ihre Inhalte zugreifen kann, wenn man die echten Informationen über den eigenen Browser herausrückt. Sie könnten Nutzer:innen von Browsern, die diese Daten nicht sammeln, aussperren. Kurz, sie könnten die Freiheit der Browserwahl faktisch abschaffen, obwohl so viele Menschen so dringend auf alternative Browser angewiesen sind.
Nun ist die Web Environment Integrity bei Weitem nicht der erste Angriff auf die Wahlfreiheit. Die Smartphone-Betriebssysteme Android und Apples iOS wollen verhindern, dass Nutzer:innen Apps außerhalb ihrer App-Stores installieren, wo sie für jeden Download einen Anteil am Umsatz kassieren. Appbetreiber können den Zugriff sperren, wenn sie merken, dass Nutzer:innen Änderungen an ihren eigenen Geräten vorgenommen haben, um dadurch ihre Daten besser zu schützen oder Funktionalitäten zu gewährleisten, die vom Hersteller der Geräte nicht vorgesehen waren. Der Vorstoß von Google ist nur ein weiteres, wenn auch schwerwiegendes Glied in der Kette der Angriffe auf die Wahlfreiheit bei Hard- und Software.
Kommt Google diesmal damit durch? Fragt man in der Pressestelle nach, ist die Antwort schmallippig. Es sei vermehrt zu „Missverständnissen" gekommen, deshalb habe man online mehr Informationen bereitgestellt. Der Google-Entwickler, der die Strategie hinter der Technologie auf seinem persönlichen Account auf der Plattform GitHub veröffentlicht hatte, gibt sich kleinlaut. Anhand des Feedbacks habe man erkannt, dass es einer größeren Diskussion über den Vorschlag bedürfe. Man habe es alles nicht so gemeint und auch sonst überhaupt nichts Böses mit der Technik vor.
Doch es ist wie mit dem frühen Internet in Händen von Regierungen und Konzernen: Die Technik kann sich nicht wehren.