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Stadtflucht und Corona: Warum immer mehr Menschen aus Bremen wegziehen

Lange Zeit war die Landflucht das dominierende Thema. Vielerorts ist es das noch, vor allem im Zuge des demografischen Wandels. Es gibt aber auch einen gegenläufigen Trend: Die Gemeinden in den Speckgürteln großer Städte werden immer beliebter. Suburbanisierung nennen das die Experten.

Das Phänomen ist auch im Bremer Umland zu beobachten: Erstmals seit fast 20 Jahren hat es laut Statistischem Landesamt in Bremen mehr Fort- als Zuzüge gegeben. Im Jahr 2019 verließen demnach 31.711 Menschen die Hansestadt, 30.688 zogen nach Bremen - ein Minus von 1023. Für das Corona-Jahr 2020 liegt die Statistik nur bis Oktober vor, aber auch hier zeichnet sich ein negatives Ergebnis ab.

Das beliebteste Ziel ist dabei seit Jahren das niedersächsische Umland. Fast 7500 Bremer sind den Daten zufolge 2019 in die umliegenden Gemeinden gezogen. Besonders Delmenhorst, Stuhr, Lilienthal, Schwanewede und Weyhe stehen hoch im Kurs. „Den Trend, von der Stadt ins Umland zu ziehen, gibt es schon seit den 1960er-Jahren - und er hält bis heute an. Die Pandemie könnte dieser Entwicklung sogar einen neuen Schub geben", sagt Julia Lossau, Professorin für Stadtgeografie an der Universität Bremen.

Familie zieht von Bremen nach Blender bei Thedinghausen

Ercan Cimen sucht nach Worten. Der Friseur will erklären, warum er mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern aus Bremen weggezogen ist. Leicht fällt es ihm nicht. „Es war irgendwie eng", sagt er. „Die Kinder sollten behutsamer aufwachsen. Wir brauchten einfach was Neues." Was Neues - das war für die fünfköpfige Familie dann der Umzug aus Huckelriede ins Bremer Umland.

Im Juli vergangenen Jahres, es war der 18., das weiß Cimen noch genau, zog die Familie nach Blender bei Thedinghausen. Dort hatten sie ein Grundstück gekauft, auf dem sie ein Haus bauen. Zurzeit leben sie in einer Wohnung wenige Meter von der Baustelle entfernt. Cimens Frau ist in Blender aufgewachsen, daher fiel die Wahl auf das Dorf in Niedersachsen. „Mit 18 war sie nach Bremen gekommen", erzählt er. Nun wieder der Weg zurück. Natürlich habe der Preis für das Grundstück bei der Entscheidung eine Rolle gespielt. Bauland sei in Bremen kaum erschwinglich.

Die Bremer Handelskammer warnt schon seit Jahren vor dieser Entwicklung. „Um die Abwanderung von Familien ins Umland zu stoppen, müssen neue Flächen für Einfamilienhäuser am Stadtrand ausgewiesen werden", heißt es in einem Papier. Der Bremer Senat will in den nächsten Jahren mit zusätzlichen 10.000 Wohnungen gegensteuern. „Die Bremer Politik versucht mehr Wohnraum zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel durch Nachverdichtung im Bestand oder durch Neubaugebiete wie in Huckelriede", sagt Lossau. Oft wird von der Handelskammer auch die Osterholzer Feldmark als Baugebiet in Spiel gebracht. „Dabei müssen aber verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen werden. Niemand will etwa eine völlig zugebaute Stadt", sagt Lossau.

Ercan Cimen arbeitet weiterhin in Bremen, in Kattenesch. Das Pendeln ist kein Problem für ihn. „Ich bin teilweise schneller bei der Arbeit als vorher", erklärt er. Die Fahrt dauere kaum länger als 30 Minuten. Und auch für die Kinder, zehn, vier und drei Jahre alt, hat sich der Umzug als Gewinn herausgestellt. Die älteste Tochter der Familie ist gerade auf das Gymnasium gewechselt. „Das fordert sie schon", sagt Cimen. Aber das wäre bei dem Wechsel in Bremen wohl auch so gewesen. „Bildung hat bei unserer Entscheidung keine besondere Rolle gespielt", so Cimen. Dafür der Freiraum für die Kinder. „Sie können in Ruhe spielen, haben mehr Platz." Das habe sich auch während der Corona-Pandemie positiv ausgewirkt.

Viele durch Homeoffice nicht auf Stadtwohnung angewiesen

Corona hat in vielen Unternehmen zu einem Digitalisierungsschub und damit auch einem Kulturwandel geführt. „Dadurch, dass in vielen Unternehmen nun Homeoffice möglich ist, sind die Menschen nicht mehr auf eine Wohnung in der Stadt angewiesen", sagt Lossau von der Uni Bremen. Trotz des Umzugs aufs Land sparen viele Menschen nun sogar den täglichen Arbeitsweg in die Stadt. Schnelles Internet für das Homeoffice gibt es laut Breitbandatlas des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur mittlerweile auch im Umland - zumindest in den größeren Gemeinden.

Janina Braun ist im vergangenen August mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn aus einer 56-Quadratmeter-Wohnung in der Bremer Neustadt in ein Haus nach Martfeld im Landkreis Diepholz gezogen. Leicht ist es ihr nicht gefallen, erzählt sie. "Ich bin ein Bremer Kind. Am Anfang habe ich mich mit dem Gedanken schwergetan." Martfeld liegt in der Nähe von Verden, rund eine halbe Stunde von der Bremer Innenstadt entfernt.

"Nach der Geburt unseres Sohnes wollten wir gerne in ein Haus ziehen", erzählt Braun. In Bremen waren der Familie die Preise zu hoch. Nach insgesamt drei Jahren Suche hat sich die Möglichkeit ergeben, nach Martfeld zu ziehen. "Wir haben dort ein Haus gefunden, an dem wir relativ wenig machen mussten." Günstig war auch, dass Brauns Bruder im Nachbarort lebt und auch die Eltern dort derzeit bauen.

„Vorher konnte mein Mann zu Fuß zur Arbeit gehen", erzählt Braun, aber auch für sie beide sei das Pendeln nach Bremen machbar. Zurzeit arbeite ihr Mann ohnehin im Homeoffice. Die Pandemie sei zwar nicht ausschlaggebend für den Wohnortwechsel gewesen, dennoch fühlt Braun sich auf dem Land nun wohler. „Man hat mehr Platz zum Atmen", in der Stadt habe sie teilweise beim Spazieren gehen Angst vor einer Ansteckung gehabt.

Umfrage: 40 Prozent finden Wohnsituation nicht optimal

Mehr Freiraum, viel Natur und trotzdem nahe am Arbeitsort - ähnlich wie Ercan Cimen und Janina Braun haben derzeit offenbar viele Menschen den Wunsch, aus der Stadt zu ziehen. Bei einer Umfrage der Landesbausparkassen unter gut 1000 Menschen gaben 34 Prozent an, bei einem Umzug stärker auf Balkon oder Garten achten zu wollen, 23 Prozent hätten gerne mehr Zimmer. „Viele Wünsche laufen also darauf hinaus, dass es die Bundesbürger tatsächlich verstärkt ins Umland verschlagen könnte, denn dort lassen sich die meisten Ansprüche eher erfüllen als mitten in der Stadt", folgern die Autoren. Ganze 40 Prozent der Befragten fänden ihre Wohnsituation nach den Corona-Erfahrungen nicht mehr optimal.

Zur Sache

Bevölkerungsentwicklung in Bremen

Die Zahl der in Bremen lebenden Menschen hängt von drei wichtigen demografischen Prozessen ab: den Geburten, den Sterbefällen und dem Ergebnis der Zu- und Abwanderungen. Seit 1970 ist der sogenannte natürliche Saldo negativ: Es sterben jährlich mehr Menschen in Bremen als es Neugeborene gibt.

Dass Bremen insgesamt nicht jedes Jahr schrumpft, liegt am positiven Wanderungssaldo. Bis 2019 zogen jedes Jahr mehr Menschen nach Bremen als abwanderten. Das liegt vor allem am Zuzug junger Menschen und Bürgern aus dem Ausland. Im Jahr 2019 kamen von den knapp 13.000 Zuziehenden aus dem Ausland 7141 aus Europa, drei Viertel davon aus EU-Staaten. 2150 kamen aus Asien, 1082 aus Afrika. Trotzdem ist Bremens Bevölkerung im Jahr 2019 erstmals seit fast 20 Jahren wieder geschrumpft: um knapp 1800 auf 567.559 Menschen. Laut Statistischem Landesamt lag das an der ungewöhnlichen hohen Abwanderung und einer Registerbereinigung.

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