Ralf Fücks: Weil ich davon ausging, dass alle Beteiligten ein starkes Motiv haben, eine Alternative zur Großen Koalition zu bilden. Demokratie braucht immer Alternativen. Es wäre äußerst unglücklich, wenn die Auffächerung des Parteiensystems dazu führen würde, dass man am Ende immer wieder bei der Großen Koalition landet. Wer Politik macht, sollte den Gestaltungswillen haben, seine Ideen in die Realität umzusetzen. Aber letztlich hat dann doch der Kleinmut über den Mut gesiegt.
Sehen Sie die Hauptschuld bei der FDP, die die Sondierungsgespräche abgebrochen hat?Zwei Parteien hatten den klaren Willen, zueinander zu kommen: die Grünen und die CDU. Die beiden anderen - FDP und CSU - hielten sich zumindest die Option offen, die Verhandlungen platzen zu lassen. Der FDP sitzt immer noch das Trauma der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2013 in den Knochen, die Furcht, in einer schwarz-grün dominierten Koalition bis zur Unkenntlichkeit zerrieben zu werden. Ich interpretiere den Notausstieg von FDP-Chef Lindner nicht als Zeichen von Selbstbewusstsein, sondern als Angst, sich in einer solchen Koalition nicht behaupten zu können.
Wenn ihr das Trauma noch so sehr nachhängt, warum hat die FDP dann überhaupt bis Sonntagnacht verhandelt?Ob das jetzt Torschlusspanik oder kalkulierte Inszenierung war, will ich nicht beurteilen. Jeder, der vom Verhandlungstisch aufsteht und damit die Verantwortung für das Scheitern übernimmt, steht unter großem Legitimationsdruck. Die Bürger erwarten zu Recht, dass die Parteien in der Lage sind, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, statt das Volk so lange wählen zu lassen, bis ihnen das Ergebnis passt.
Was bedeutet das Scheitern der Jamaika-Koalition für eine Modernisierung der deutschen Politik?Die Konstellation mit sieben Parteien im Bundestag zwingt geradezu, neue Allianzen zu schmieden. Deren Charme kann darin bestehen, dass man aus unterschiedlichen Grundpositionen etwas Konstruktives macht. Die Herausforderung für eine Jamaika-Koalition lautet: Wie bringt man Marktwirtschaft mit Ökologie und mehr Chancengerechtigkeit unter einen Hut? Alle großen Weichenstellungen - der Klimaschutz und der Übergang zu einer umweltfreundlichen Ökonomie, die Einwanderungspolitik, die Gestaltung der digitalen Revolution oder das europäische Einigungswerk - erfordern Mehrheiten, die stabiler sind als nur 51 Prozent und länger halten als eine Legislaturperiode. Ich fürchte, dass wir, wenn es wieder auf eine Große Koalition hinausläuft, entscheidende Zeit für eine innovative Politik verlieren werden. Den Status quo zu verwalten, reicht nicht aus - dafür sind die Veränderungen zu groß, die auf uns zurollen.
Sie appellieren also an die Vernunft der Parteien?Demokratie lebt immer von dem Streit um die bessere Lösung. Das Ringen um Alternativen ist ein Lebenselixier für demokratische Politik, aber es muss einhergehen mit der Bereitschaft zum Kompromiss - gerade, wenn das politische Spektrum sich immer mehr aufsplittert. Es muss einen wachen Sinn für das Gemeinwohl geben, das wichtiger ist als das Parteiinteresse.
Das scheint bei der FDP nicht der Fall gewesen zu sein.Ich glaube, dass die FDP noch stark von den vier Jahren außerparlamentarische Opposition geprägt ist. Das geht bis zum Mangel an Kompetenz in Themenfeldern wie Klima und Energie, wo sie in den Verhandlungen einfach nicht auf Augenhöhe war. Sie ist stärker mit sich und der Frage, welche Rolle sie künftig spielen will, beschäftigt als mit der Frage, wie man eine handlungsfähige Regierung bildet. Es ist nicht ausgemacht, wohin der Kurs der FDP führt. Offenbar gibt es eine starke Versuchung, in Richtung einer nationalliberalen Politik zu gehen. Das macht sich vor allem an ihrer restriktiven Haltung in der Flüchtlings- und Migrationspolitik und an ihrer reservierten Haltung gegenüber der Europäischen Union fest. Beides sind Knackpunkte für eine Regierungsbildung. Die Grünen können sich auf keine Koalition einlassen, die der EU die kalte Schulter zeigt und noch hinter die Mindestanforderungen einer humanen Flüchtlingspolitik zurückfällt.
Gibt es überhaupt noch genügend Überschneidungen zwischen den Grünen und der FDP?Die Art und Weise, wie die FDP aus den Verhandlungen ausgestiegen ist, war natürlich ein Affront. Das hat heftige Gegenreaktionen hervorgerufen. Insofern wird es schwierig, dieses Porzellan wieder zu kitten. Aber es ist ja durchaus möglich, dass Neuwahlen die gleichen politischen Alternativen hervorbringen. Deshalb darf man einen neuen Anlauf für eine Regierungsbildung mit der FDP nicht verbauen.
Robert Habeck, stellvertretender Ministerpräsident der Jamaika-Koalition Schleswig-Holsteins, hat gesagt, dass es ein Fehler war, nicht zunächst strittige Punkte zu verhandeln.Das ist eine Kritik, die sich Angela Merkel gefallen lassen muss. Es fehlte an politischer Führung.
Wie sehen Sie Merkels Position nach dem Scheitern?Ihre Stärke ist ihre vermeintliche Alternativlosigkeit. Es drängt sich niemand auf, dem man das Steuer in diesen stürmischen Zeiten anvertrauen möchte. Schäuble ist auf dem Weg ins Altenteil, Schulz ist überfordert. Gleichzeitig ist offenkundig, dass Merkels Stern schon seit der Bundestagswahl - mit dem schlechtesten Ergebnis seit 1949 für die Union - im Sinken begriffen ist.
Stichwort Europa: Was bedeutet diese Krise für den Kontinent?Die jetzige Hängepartie ist keine Staatskrise. Die Institutionen und die Ökonomie funktionieren. Aber wir brauchen im europäischen Interesse dringend eine handlungsfähige Bundesregierung. Wir haben Verwerfungen mit der Trump-Administration, Krieg in der Ukraine, gewaltsame Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Auch in der EU knirscht es im Gebälk. Ein starkes Europa gibt es nicht ohne eine handlungsfähige Bundesrepublik. Mit Frankreichs Präsident Macron gibt es einen Partner für mehr europäische Zusammenarbeit. Diese Chance dürfen wir nicht verspielen, daher darf man sich nicht zu lange mit den Befindlichkeiten der Parteien und taktischen Spielereien aufhalten.
Der Bundespräsident hat in einer Rede an alle Parteien appelliert, den Ball nicht an die Wähler zurückzuspielen. Welche Möglichkeiten sehen Sie noch für eine Regierungsbildung?Es gibt vier Szenarien: Die jetzige Regierung bleibt noch eine Weile geschäftsführend im Amt. Das ist durch die Verfassung nicht befristet. Die zweite Variante ist, dass die SPD umschwenkt und doch noch in eine Große Koalition geht. Dafür wird sie aber den Skalp von Angela Merkel fordern. Die dritte Variante ist, dass der Bundespräsident einen Kanzler oder Kanzlerin ernennt, der keine absolute Mehrheit im Parlament hat. Eine Minderheitsregierung halte ich aber für unwahrscheinlich, weil ich kein Motiv bei FDP und SPD sehe, eine schwarz-grüne Koalition zu tolerieren. Bleibt der Weg in Neuwahlen, dann werden die Karten neu gemischt.
Was ist die wahrscheinlichste Variante?Ich gehe davon aus, dass wir im nächsten Frühjahr Neuwahlen sehen werden. Aber wir befinden uns in unbekannten Gewässern: Die Bundesrepublik ist in der europäischen Normalität von volatilen politischen Verhältnissen und einer komplizierten Regierungsbildung angekommen. Das spiegelt die allgemeine Unsicherheit wieder. Wir sind in einer Übergangszeit - sowohl international wie gesellschaftspolitisch -, die uns in eine ungewisse Zukunft führt. Die alte Bundesrepublik ist definitiv vorbei.
Haben Sie Sorge vor einem Erstarken der AfD bei Neuwahlen?
Das kann passieren. Allerdings könnte mit der FDP ein Wettbewerber auftreten, der in den Gefilden der AfD wildert. Es ist ja nicht zufällig, dass die FDP ausgerechnet in der Europa- und Flüchtlingspolitik eine Position bezieht, die auch für AfD-Wähler anschlussfähig ist. Ich halte nichts davon, die heutigen Umfragen auf eine vorgezogene Bundestagswahl hochzurechnen. Das wird sich alles noch einmal neu sortieren.
Das Gespräch führte Jan-Felix Jasch.