Ein kurzer Sprint, einige Sprünge über mannshohe Kalksteinblöcke, schon stehe ich am Eingang der in der Sonne schimmernden Cheopspyramide. Im Inneren ist es düster, das Licht von Fackeln flackert an den Wänden, der Weg führt in die große Galerie und nur kriechend geht es weiter in die Königinnenkammer. Natürlich krieche ich nicht wirklich alleine durch die düsteren Gänge der Großen Pyramide von Gizeh, das macht eine Spielfigur für mich. Immer wieder bleibe ich stehen: Die Welt um mich herum verblasst plötzlich und es erscheinen Text oder Fotos und eine Stimme ertönt, um beispielsweise zu erklären, dass in der Königinnenkammer vermutlich nie eine Königin begraben lag.
Ohne Touristenhorden durch das alte Ägypten zu streifen, das ermöglicht mir die Discovery Tour des Spiels Assassin's Creed Origins. Der Spieler bewegt sich frei durch das antike Ägypten und kann 75 Touren absolvieren, in denen es um Mumifizierung, das Alltagsleben der damaligen Zeit, den Nil oder eben die Pyramiden geht. Aufgaben, Kämpfe oder andere Spielziele gibt es nicht. Die Idee ist vielmehr, mit dem Spiel etwas zu lernen, möglicherweise besser als aus Büchern - zumindest mit mehr Spaß. In einer Broschüre des Spieleentwicklers Ubisoft heißt es: „Die Discovery Tour ist interaktiver Geschichtsunterricht für alle und gibt besonders Lehrern ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie ihren Unterricht lebendiger gestalten können."
Dass Computerspiele den Unterricht bereichern können, ist eine Erkenntnis, die sich langsam immer weiter durchsetzt: „Wir bekommen immer mehr Anfragen, vor allem im Lauf des vergangenen Jahres hat das Thema richtig Fahrt aufgenommen", sagt Carolin Wendt von der Stiftung Digitale Spielekultur. Die Stiftung betreibt gemeinsam mit der TH Köln die Plattform Digitale-Spielewelten.de, auf der Methoden und Unterrichtsmaterial rund um das Thema digitale Spiele zur Verfügung stehen. „Bisher sind wir auf Lehrerinnen und Lehrer zugegangen", sagt Wendt, „mittlerweile kommen sie zu uns." Immer mehr Projekte und Initiativen rund um das Thema entstehen, immer mehr Lehrer zeigen Interesse und binden Computerspiele in ihren Unterricht ein.
Aus Sicht vieler Experten ein überfälliger Trend. Denn dass Spiele beim Lernen helfen können, ist schon lange bekannt. Bereits in den Achtzigerjahren wurde das Thema unter dem Schlagwort Edutainment diskutiert, später prägte der US-amerikanische Autor Marc Prensky den Begriff des Digital Game Based Learning (DGBL) in seinem gleichnamigen Buch. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Computerspiele problemlösendes Denken fördern können. Genauso wie die Entscheidungsfähigkeit oder Konzentration. Es gibt Studien, die zeigen oder zumindest nahelegen, dass Spiele beim Lernen von Fremdsprachen, Biologie, Geografie oder Geschichte sinnvoll eingesetzt werden können.
Auch zur Discovery Tour von Assasin's Creed gibt es eine Untersuchung. Marc-André Éthier, Professor an der Universität Montréal hat mit mehr als 300 Schülerinnen und Schülern getestet, wer mehr über das alte Ägypten lernt: Eine Gruppe, die den Stoff mit einem Lehrer durchnimmt oder die Gruppe, die den gleichen Inhalt per Discovery Tour erfährt. Gemessen wurde das durch einen Eingangs- und Ausgangstest. Das Ergebnis: Die Gruppe, die mit Lehrer lernte, schnitt im Ausgangstest etwas besser ab. Aber nur knapp. Während die Lehrer-Gruppe 51 Prozent der Fragen im Abschlusstest richtig beantwortete, erreichte die spielende Gruppe 44 Prozent - ausgehend von 21 vor dem Spiel (bei der Lehrer-Gruppe waren es 22).
Natürlich bleiben Fragen offen, sagt Maxime Durand, Historiker und Mitentwickler der Discovery Tour, bei einem Vortrag auf dem Gamescom Congress im August 2018. Zum Beispiel habe der Versuch nur relativ einfache Fakten abgefragt, kein Verständnis zu komplexen Entwicklung von Gesellschaft und Politik oder zu kritischem Denken. Auch müsse man noch testen, ob eine Kombination von Lehrer und Spiel andere Ergebnisse produzieren würde. Aber die Untersuchung zeigt doch: Lernen per Computerspiel? Das geht.
„It's motivating, because it's fun"Das ist durchaus naheliegend, schließlich liegen Spielen und Lernen nahe beieinander. Kleine Kinder lernen alles - Laufen, Sprechen, soziales Miteinander - buchstäblich spielerisch. Auch institutionalisiertes Lernen und Spielen teilen sich eine ganze Reihe von Merkmalen. Zum Beispiel geht es bei beidem darum, Aufgaben zu lösen und dafür Strategien zu entwickeln. Es gibt Rückkopplungsprozesse, die Rückmeldung über Erfolg, Leistung und Fortschritt geben. Und nach jeder erfüllten Aufgabe folgt direkt die nächste, schwierigere.
Spiele sind interaktiv. Das heißt, anders als bei einem Buch oder einem Film wirkt der Rezipient direkt auf das Geschehen ein und ist dadurch deutlich stärker involviert und damit bei der Sache. Vor allem: Wer spielt, ist automatisch motiviert.
Beim Spielen entsteht die sogenannte intrinsische, aus sich selbst herauskommende, Motivation. Man macht etwas gerne, deswegen will man weitermachen. Nicht, weil man sich irgendetwas Externes davon verspricht. Dass man quasi nebenbei etwas lernt, stört nicht, ist aber nicht der Antrieb. Das ist wohl eines der gewichtigsten Argumente, warum es Sinn ergibt, Spiele als Bildungsinstrumente zu nutzen. „Die größte Kunst ist, den Kleinen alles, was sie tun oder lernen sollen, zum Spiel und Zeitvertreib zu machen", schrieb schon 1693 der englische Philosoph John Locke in seinen Gedanken über Erziehung. Seitdem haben sich Spiele stark verändert. Sie sind komplexer geworden, multimedial und bieten die Möglichkeit, andere Welten buchstäblich zu betreten. Umso mehr gilt, was Marc Prensky gleich zu Beginn seines Buches konstatiert: „Digital-Game-based-Learning is motivating, because it is fun."
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