Am 11. März töteten zwei Schülerinnen in Freudenberg die zwölfjährige Luise. stern-Reporter haben den Ort seither regelmäßig besucht. Über eine Stadt, die um Versöhnung ringt – und um die Zukunft der betroffenen Familien
Wenige Wochen nach dem Tod von Luise F. schieben sich die Menschen durch die Straßen und Gässchen von Freudenberg im Siegerland. Es ist Frühlingsmarkt. Stände links und rechts auf gepflastertem Stein und vor prächtigem Fachwerk. Holz und Glas, Honig und Gewürze, Bürsten und Messer. Oben im Örtchen Oldtimer, unten Flohmarkt und Strickleiterklettern der Jugendfeuerwehr. Die „Siegener Zeitung“, sie hat auch einen Stand, wird anderntags schreiben, „Freudenberg holt sich ein Stück Normalität zurück“, und auf den ersten Blick wirkt das so. Lachende Kinder, Bier vom Fass, Bratwurst und Steak vom Schwenkgrill. So riecht und schmeckt Normalität.
Normalerweise.
Und doch ist das nur malerische Fassade. Kaum ein Gespräch, das sich nicht dreht auf den 11. März und die Tat, die drei Familien zerstörte und den Ort erschütterte: der Mord an der zwölf Jahre alten Luise F., begangen von zwei Schulkameradinnen.
Danach zog ein Sturm über das Städtchen und seine knapp 18 000 Einwohner. Reporter aus ganz Europa fielen ein, und nicht wenige von ihnen hinterließen verbrannte Erde.
Es ist die Zeit, da bei den Seelsorgern die Telefone nicht stillstehen und sich tief nachts noch schlaflose Menschen melden mit der Bitte um Hilfe oder ein offenes Ohr.
Die Zeit, da Bürgermeisterin Nicole Reschke von Hassmails berichtet. Nur weil sie zu einem vernünftigen und maßvollen Verhalten mit allen drei Familien aufgerufen hatte, „das hat mich überrollt“.
Und es ist die Zeit, da der Vorsitzende des örtlichen Fußballklubs, Christian Janusch, angefasst im Vereinsheim von SV Fortuna Freudenberg vor einer Wand mit Pokalen sitzt und das Gefühl dieser Tage beschreibt als „ein Nebel, eine Dunstglocke, ein Betonklotz über der Stadt“.
Das ist die Gemengelage im Frühjahr.
Über Monate hinweg sind zwei Reporter des stern in regelmäßigen Abständen in den Ort gefahren. Sie haben mit Politikern gesprochen, mit Behördenvertretern, mit Seelsorgern und einem Geistlichen, mit Bürgern, Gastronomen, Vereinsvertretern – und schließlich auch mit dem Vater einer der Täterinnen. Sie konnten den Tathergang und die Motivlage rekonstruieren – sofern man von einem Motiv überhaupt reden kann.
Sie gingen aber auch der Frage nach, wie eine kleine Stadt dieses große Verbrechen verarbeitet. Wie umgehen mit den Familien? Und wie mit den jungen Täterinnen, vor denen noch ein Leben liegt?
Freudenberg war schon vor der Tat kein sonderlich aufgeschlossener Ort. Neben Fachwerk ist es für den historisch gewachsenen Pietismus bekannt, eine besonders gläubige protestantische Glaubensauslegung. Das prägt Städte, und das prägt ihre Einwohner. Ein Kneipier erzählt, dass sich viele seiner Gäste durch den Hintereingang an den Tresen schleichen, sie könnten ja gesehen werden. Er sagt, es werde permanent getuschelt, aber nichts aufbereitet, „die schweigen das mit Luise hier weg“. So sei das in Freudenberg.
Man rückt zusammen.
Man trauert zusammen.
Und man schweigt zusammen.
Freudenberg ist Frömmigkeit, Fachwerk und immer wieder mal auch Filmkulisse. Einer dieser Filme heißt „Das Lied des toten Mädchens“.
DIE TAT
Luise F., ein zwölf Jahre altes Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen, galt als aufgeweckt, lebensfroh und tierlieb. Sie mochte Tulpen, Tauchen im Meer und ihre Meerschweinchen. Selbst Regenwürmer soll sie von der Straße aufgesammelt haben, damit sie nicht überfahren werden, sagte der Pastor bei der Trauerfeier.
Am Nachmittag des 11. März, einem kalten Samstag, traf sich Luise mit ihrer Freundin Jasmin* bei Emma*. Die Mädchen besuchten die siebte Klasse der Esther-Bejarano-Gesamtschule. Jasmin, 13 Jahre, war erst im November in die Klasse gewechselt, nach monatelanger Schulabstinenz wegen sozialer Phobien. Die anderen hatten sie kurz zuvor in ihre Clique aufgenommen, die eigentlich nun aus vier Mädchen bestand. Die Vierte im Bunde fehlte an diesem Nachmittag. Jasmin war zum ersten Mal bei Emma eingeladen, die Freundschaft noch früh und flüchtig. Luise und Emma kannten sich am längsten, gute Freundinnen seit Jahren. Sie spielten zusammen, sahen Filme zusammen, fuhren zusammen nach Siegen, in die große Stadt.
Über das Motiv der Tat wurde im Nachgang viel spekuliert. Es war nach Recherchen des stern kindlich und banal. In den Gesprächen und Chats der vier ging es um Belanglosigkeiten, hin und wieder um Jungs und Schwärmereien, wen wer nett findet, wen nicht und bei wem wer wohl eine Chance hätte oder nicht. Vorpubertäres Geplauder. Luise hatte allerdings auch mal über Emmas Gewicht gefrotzelt. Vermutlich ohne große Boshaftigkeit. Hin und wieder hatten Luise und Emma sich gegenseitig geneckt und gesagt: „Irgendwann bringe ich dich um.“ Dumme Sprüche, und als solche sortierten drei der vier Mädchen sie auch ein. Nur Emma nicht.
Der Kinder- und Jugendpsychologe Helmut Remschmidt, der sich seit Jahrzehnten mit minderjährigen Mördern beschäftigt, sagte dem stern kurz nach der Tat: „Mit 12 oder 13 Jahren beginnt die Pubertät. Ein Stadium, in dem viele Kinder sehr irritiert und sensibel sind. Sie können oft noch nicht die Tragweite ihrer Handlungen richtig einschätzen.“ Exakt das werde auch an den kindlichen Motiven deutlich. „Wenn eine Freundin plötzlich keine Freundin mehr ist, kann das zum Beispiel Rachegefühle auslösen, wenn auch in der Regel keine Gewalttaten.“ Remschmidt nennt den Mord von Freudenberg „einen Einzelfall“.
Ein schrecklicher Einzelfall, ein gekränktes Ego – aber nicht ansatzweise das, was man gemeinhin unter Mobbing versteht.
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