Was der nächste Morgen bringt
Die Familien todkranker Kinder leiden nicht nur unter Ängsten und Sorgen, sondern müssen auch noch ihren kräfteraubenden Alltag organisieren. Die Mitarbeiter des ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes helfen ihnen auf vielfältige Art und Weise. Zum Beispiel in Soest
Hannah* weiss, dass ihr Bruder sterben wird. Im letzten Winter ging sie regelmäßig mit der Ungewissheit ins Bett, ob Jonte am nächsten Morgen noch am Leben ist. Gerade liegt der Zweijährige fröhlich glucksend im Wohnzimmer und rollt sich über den Boden. Die nächste Erkältung aber – für die meisten Zweijährigen und ihre Eltern nicht mehr als lästig – kann für Jonte wochenlange Intensivstation bedeuten und im schlimmsten Fall seine Lungen kollabieren lassen. Niemand kann genau sagen, wie alt Jonte werden wird.
Die achtjährige Hannah und ihr Bruder Jonte leben mit ihren Eltern Sandra und Lars Kern in Büderich bei Soest in Nordrhein-Westfalen. Einmal in der Woche kommt Yvonne Reeve für zwei Stunden. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin des Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes für den Kreis Soest begleitet die Familie seit einem Jahr. Besonders Hannah hat eine enge Bindung zu ihr aufgebaut. „Sie genießt das total“, erklärt Mutter Sandra, dankbar für die Aufmerksamkeit, die ihre Große so bekommt. „Alles dreht sich bei uns um Jonte, dabei hat auch Hannah Bedürfnisse. Aber die kommen oft zu kurz.“
Jontes erste Lebenswochen waren mehr Sterben als Leben. In der 23. Schwangerschaftswoche kann Sandras Körper nicht mehr und die Geburt wird unausweichlich. Die 36-jährige Sonderpädagogin leidet an Morbus Crohn und einer Autoimmunerkrankung, die ihr unter anderem alle Körperhaare genommen hat. Schon die erste Schwangerschaft war nicht unkompliziert, aber Hannah kam gesund zur Welt. Beim zweiten Kind kämpft Sandra immer wieder mit Blutungen, ihr Körper wehrt sich, und lange Zeit rechnen die Eltern mit einer Fehlgeburt.
Auftanken im Hospiz
Nur die wenigsten Kliniken versorgen Neugeborene in der 23. Woche, erst ab der 24. sind Ärzte verpflichtet, alles zu tun, um das Leben der Winzlinge zu retten. Jonte bekommt diese Chance – und überlebt. Seine Augenlider sind in den ersten Wochen noch geschlossen, seine Haut ist dünn wie Pergament. 530 Gramm wiegt er, der Schnuller riesig im winzigen Kindergesicht. Er wird fast anderthalb Jahre lang beatmet, auch noch, als er nach Hause kommt. Magensonden, Dauerpiepen. „Seit Jonte auf der Welt ist, lässt sich unser Familienleben nicht mehr planen“, erklärt Lars Kern, 36. Es gibt kaum einen „Nächsten-Monatsplan“, geschweige denn eine noch fernere Zukunftsvision. „Wir leben für den nächsten Tag, freuen uns über jeden Erfolg.“ Aber die Erschöpfung, die schlaflosen Nächte, die ständigen Sorgen und die Streitereien mit den Krankenkassen über die Übernahme notwendiger Hilfsmittel rauben der Familie die Kraft. Auftanken können sie schließlich während eines zehntägigen Aufenthalts im Kinderhospiz in Olpe. „Wir konnten endlich durchatmen und eine Familie werden“, erzählt Sandra vom ersten Familienurlaub zu viert.
Urlaub im Hospiz, wie geht das? „Mit dem Hospiz verbindet man sterbende Kinder und Trauer, aber es ist ganz anders: Hier wird gelacht!“, sagt Sandra. „Man darf auch mal traurig sein, aber vor allem haben die Menschen Spaß und feiern das Leben.“ Carla Bieling, Leiterin des Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes für den Kreis Soest, erklärt: „Kinderhospizarbeit ist Lebensbegleitung – ob nun ambulant oder stationär.“ Die Familien entlasten und ihnen Raum geben, zum Beispiel für Gespräche – das ist das Ziel. Die einzige Voraussetzung ist, wovor sich wohl alle Eltern fürchten: eine ärztliche Bestätigung darüber, dass ihr Kind an einer lebensverkürzenden Krankheit leidet und voraussichtlich nicht älter als 25 Jahre werden wird.
Enge Verbindung zwischen Fremden
In den Gesprächen im Hospiz wird deutlich, wo die Kerns am meisten Hilfe benötigen. „Zeit ist das, was uns am meisten fehlt. Zeit zum Luftholen, Zeit für Hannah“, sagt Sandra. Seitdem kommt Yvonne Reeve nicht mehr nur für Jonte, sondern vorrangig für Hannah. Keine einzige der Stunden ist je ausgefallen.
Als Glatteis im Winter den Termin bedrohte, wurde kurzerhand ein Videochat eingerichtet. „Mir ist es wichtig, verbindlich zu sein“, bekräftigt Yvonne Reeve. Bei ihrer Arbeit für eine Krankenkasse erlebt sie, mit welchen Restriktionen und Fallstricken sich Familien abmühen. Sie ist dankbar für ihre eigene gesunde Tochter und zwei Enkelkinder und will etwas zurückgeben. Für Familie Kern ist sie zu einem Anker geworden. „Unsere Leute helfen, wo es nottut“, sagt Bieling. „Wir sind keine Physiotherapeuten und keine Seelsorger, aber wir hören zu. Bei uns braucht man kein Blatt vor den Mund zu nehmen, man darf auch fluchen oder verzweifelt sein.“ Mit vielen anderen Menschen sei es für die betroffenen Familien nicht so einfach, über den Tod zu sprechen, obwohl er doch allgegenwärtig ist.
Eine eigene Haltung finden
Wer sich für die Kinderhospizarbeit interessiert und pro Woche die nötige Zeit aufbringen kann, wird in einem 90-stündigen Lehrgang ausgebildet. Darin, sich selbst und das Thema Tod besser kennenzulernen und eine Haltung zu finden. Sich zu öffnen und zum verantwortungsvollen Begleiter zu werden.
„Man muss lernen, zu sagen ‚Ich gehe ein Stück mit dir‘, auch wenn es nicht einfach ist. Aber da zu sein und die Situation mitauszuhalten, ist sehr wertvoll, besonders dann, wenn niemand helfen kann“, erklärt Bieling. Die Familien zu begleiten bedeutet dann auch, mitzuerleben, wie Kinder einst gewonnene Fähigkeiten verlieren. Der Prozess ist oft schleichend, über viele Jahre hinweg. 50.000 Kinder und Jugendliche leben in Deutschland mit einer Krankheit, die ihr Leben vorzeitig beendet. Seit 1990 kümmert sich der Deutsche Kinderhospizverein, Träger des Soester Dienstes, um die betroffenen Familien. Krebskranke Kinder werden selten betreut, weil die Familien während der Therapien meist schon gut emotional von den Kliniken versorgt werden und viele Verläufe rasant sind und schnell enden. Vom Hospizdienst hingegen werden die Kinder, die etwa an Mukopolysaccharidose oder Progeria leiden, über viele Jahre hinweg begleitet.
Der Dienst in Soest, 2015 gegründet, betreut mit 15 Ehrenamtlichen neun Familien. Bieling ist die einzig hauptberuflich Beschäftige und Organisatorin der Einsätze. Sie lernt die Familien zuerst kennen, koordiniert den Bedarf und hilft darüber hinaus, wenn gerade niemand weiterweiß. „Einer Familie mit einem Teenager, der im Rollstuhl sitzt, haben wir kürzlich geholfen, einen Treppenlift zu finanzieren.“ Der Junge konnte lange Zeit aus eigener Kraft die Treppe hochrobben, hatte sich aber nun die Zähne ausgeschlagen, als die Kraft nachließ. „Der Familie fehlt das Geld, und der Beitrag der Kasse deckte nur einen Teil der Kosten. Also haben wir einen Sponsor gesucht, der helfen konnte.“
Jonte hat stets Vorfahrt
Für Hannah ist der Tod alles und nichts. Das Thema ist Alltag, es sitzt mit am Tisch, wenn Jonte sich mal wieder an der wenigen Nahrung verschluckt, die er durch den Mund aufnimmt. „Jonte hat immer Vorfahrt“, sagt Lars Kern, „wenn er röchelt, bleibt alles andere sofort liegen.“ Weil die Eltern panisch die nächste Lungenentzündung vor Augen haben. Wie sieht es in Jontes Kopf aus? Wie hoch ist seine Lebenserwartung? Wird er jemals sprechen oder laufen können? Welche Schäden hat die Hirnblutung, über die linksseitige Spastik hinaus, angerichtet? All das bleibt ein großes Rätsel. Die Eltern nehmen kein Blatt vor den Mund, beschönigen auch vor Hannah nichts und sagen doch: „Wir sind glücklich. Wir wollten zu viert sein und wir sind zu viert. Jonte macht unser Glück perfekt.“ Wie zur Bestätigung gluckst der Zweijährige. Gerade noch war er mit Ivonne und Hannah auf der Terrasse, im Sand matschen.
Auf einer roten Schaukel schwingt sich Hannah nun quer durchs Wohnzimmer, hoch über den Matratzen ihres Bruders. Sie küsst ihn und knufft ihn freundlich, als er ihr an den Haaren zieht. „Er macht das doch nicht mit Absicht“, beschwichtigt sie die Eltern, die schon schimpfen wollen, und ist auf dem Weg nach oben. Ivonne-Zeit, Wochen-Highlight, und schon schließt sich die Tür zum Mädchenzimmer.
* alle Namen der Familie von der Redaktion geändert
Foto: Lucia Bartl
erschienen in: Xtra 2/2018