Isabell Spilker

freie Journalistin / Autorin, Hamburg / Buchholz in der Nordheide

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Feature

Freund oder Feind?

Einsatzkräfte jeglicher Couleur müssen heute einiges über sich ergehen lassen. Gewalt gegen sie gehört fast schon zum Alltag. Warum ist das so, und woher rührt die Ablehnung?


Es fehlten nur wenige Zentimeter. Das wird Feuerwehrmann Frank Hachemer allerdings erst bewusst, als ihn ein Kollege auf die Bierflasche hinweist, die neben ihm zerschellte. Der nächtliche Einsatz in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz löste Unmut beim Nachbarn aus: Generatoren, Schlauchkupplungen, Blaulicht – der Schlaf war gestört, die Brandschützer wurden angegriffen. Warum richtet sich manche Wut ausgerechnet gegen jene, die Menschen helfen und ohnehin schon am Limit schuften? Einige Krankenhäuser in den USA schützen sich mittlerweile durch Mauern und Kontrollpunkte. Mitarbeiter werden in Deeskalation geschult, Rettungswagen fahren auch in Deutschland manchmal nur unter Polizeischutz in bestimmte Gebiete.


Schüsse aus dem Hinterhalt

Für Frank Hachemer, Vizepräsident des Deutschen Feuerwehrverbands, war die zerplatzte Bierflasche wie ein Alarmruf: Helfer sind nicht mehr unantastbar, ganz gleich ob sie bei der Polizei, freiwilligen Feuerwehr, Berufsfeuerwehr oder in Krankenhäusern, Arztpraxen oder Rettungsdiensten arbeiten. Hachemer ist seit Kindheitstagen in der freiwilligen Feuerwehr und kämpft heute mit der Aktion „Helfende Hände schlägt man nicht!“ um mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Mit einer ähnlichen Aktion sorgt auch die „Junge Gruppe“ der Gewerkschaft der Polizei für Aufsehen: „Auch Mensch“ will für die zunehmende Aggression und Gewalt gegen Polizisten sensibilisieren. Die Gewalt gegen Einsatzkräfte hat in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um elf Prozent zugenommen. Im vergangenen Jahr lag sie bei über 26.000 Fällen, dabei wurden mehr als 2.000 Polizisten zum Teil schwer verletzt. Auch in der Schweiz stiegen die Aggressionen gegenüber Beamten und Behörden in den vergangenen 20 Jahren – von 423 auf 2.808 Fälle jährlich. In Österreich wurden 2016 so viele Beamte angegriffen wie nie zuvor: 1.039 erlitten Verletzungen. In den USA befindet sich die Zahl der im Einsatz getöteten Polizisten mit 135 auf einem Fünfjahreshoch und liegt dennoch unter dem Durchschnitt (151) der letzten zehn Jahre. Bedenklich ist allerdings die Zahl derer, die unter Vorsatz getötet wurden: 21 von 64 tödlichen Schüssen kamen aus einem Hinterhalt.


Nicht wirklich willkommen

Für ihre Studie „Gewalt gegen Rettungskräfte“, eine der ersten ihrer Art in Deutschland, hat die Juristin Dr. Janina Lara Dressler mehr als 1.600 Feuerwehrleute und Rettungskräfte befragt. Dabei spürten gut 85 Prozent einen Respektverlust gegenüber ihrer Zunft. Die Studie offenbart: Die Zahl der Übergriffe übersteigt die Anzahl der tatsächlichen Anzeigen deutlich. „Feuerwehrleute sind heute für die allermeisten Menschen immer noch die Guten, aber es scheint eine steigende Anzahl an Personen zu geben, die das nicht mehr so sehen“, so Dressler.„Sie ordnen die Feuerwehr in ihr Feindbild ,Staatsdiener‘ ein und verkennen damit die Absicht der Hilfeleistung.“ In manchen Situationen werde Brandschützern das Recht auf seelische Unversehrtheit geradezu abgesprochen – weil sie in ihrer Uniform als „Staatsdiener“ wahrgenommen werden. „Dabei wird völlig ignoriert, dass mehr als 95 Prozent der Feuerwehrleute in Deutschland ihren Dienst freiwillig und ehrenamtlich tun“, bekräftigt Frank Hachemer. „Und gerade die treffen solche Angriffe besonders.“ Wer einen Feuerwehrmann schlage oder beschimpfe, gerate mit einiger Sicherheit an jemanden, der weder per se den Staat repräsentiert noch für seine Arbeit bezahlt wird. 

Von zunehmender Gewaltbereitschaft und Übergriffen berichten auch Kliniken. Hauptgrund hierfür ist neben der Überlastung des Personals oft mangelnde Kommunikation. Wartende lässt man im Unklaren darüber, nach welchem Schema behandelt wird, der Blick für Notfälle fehlt oder wird vom eigenen Empfinden überblendet. Fast ein Viertel der deutschen Hausärzte hat schon einmal Gewalt erlebt. „In der Psychotherapie oder Psychiatrie ist das Risiko noch höher. Doch Anfeindungen gibt es überall, das berichten auch Kollegen aus anderen Fachrichtungen. Geschimpft und gedroht wird bereits, wenn kein Termin frei ist oder ich kein Attest ausstellen kann“, bestätigt Dr. Hans Ramm, Neurologe und Psychotherapeut sowie Vorstandsmitglied der Hamburger Ärztekammer. Dr. Ellen Douglas, Referentin am Krankenhaus Buchholz, vor den Toren Hamburgs, sagt: „Die Gewalt hat zwar nicht zugenommen, aber wir haben öfter mit Patienten zu tun, die nicht verstehen, warum sie warten müssen. Der Ton wird dann rauer.“ Sie empfänden es als Schikane, nicht sofort behandelt zu werden. Dr. Douglas verweist auf ein Problem, das viele Krankenhäuser kennen: Notaufnahmen, die überlastet sind, mit Nicht-Notfällen. Und gerade denen, die schon wochenlang auf einen Facharzttermin warten und am Wochenende die Geduld verlieren, platze beim Warten im Krankenhaus endgültig der Kragen. Ähnlich, nur sehr viel deutlicher, erlebt es Dr. Daniel Schachinger, Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme der DRK Kliniken Berlin/Westend: „Seit gut zehn Jahren nehmen die Angriffe spürbar zu. Beschimpfungen, Handgreiflichkeiten und auch massive körperliche Gewalt sind zur Realität geworden.“


Das Problem wird sichtbarer

Obwohl die Berichte und Statistiken deutlich sind, wiegeln viele Experten ab. Der deutsche Sozialwissenschaftler und Aggressionsforscher Klaus Wahl spricht von subjektiven Eindrücken und sieht im großen geschichtlichen Kontext keinen gesamtgesellschaftlichen Trend zur Verrohung: „Wir leben grundsätzlich in einer immer friedlicher werdenden Welt – die Gewalt nimmt stetig ab.“ Und auch Dr. Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg, versucht zu beruhigen: „Aktuelle Studien belegen keinen eklatanten und übergreifenden Anstieg der Gewalt. Das Problem drängt nur stärker in die Öffentlichkeit und wird sichtbarer.“ Die Übergriffe beträfen weniger als ein Prozent aller Polizisten. Und als schwer verletzt gelte bereits, wer mit einer Gehirnerschütterung für 24 Stunden zur Überwachung ins Krankenhaus müsse. „Aktuelle Studien zeigen, dass sich die Wahrnehmung von Gewalt und Aggression verändert“, erklärt der Hamburger Polizeiwissenschaftler. Die Menschen seien heute viel entsetzter und berührter, wenn ihnen Aggressivität begegne. Mit der Berichterstattung da rüber potenziere sich das Gefühl – alles werde nur noch schlimmer und brutaler. „Wir sehen die Dinge aus einer vergleichenden Perspektive. Nach dem Motto: ,Früher hat es das nicht gegeben!‘ Wer aber glaubt, früher hätten die Leute gewusst, wann man aufhört, und wären Menschen, die am Boden liegen, nicht getreten worden, der irrt.“  Es sei der Versuch, durch scheinbar präzise Erinnertes die Entwicklung einzuordnen und zu deuten. Tatsächlich ist es meist nicht mehr als das Erstaunen über das Unerklärliche.


Ausdruck von Emanzipation

Richten sich Aggressionen gegen Helfer, muss zunächst unterschieden werden zwischen der Gewalt gegen Polizisten und der gegen Rettungskräfte. Während sich Angriffe auf Feuerwehrleute und andere Helfer durch eine Ablehnung der Hilfe an sich erklären lassen, geht es bei jenen gegen Polizisten eher um einen Aufstand gegen den Staat. Es scheint, dass sich der Respekt in den vergangenen Jahren kontinuierlich verändert hat. Eltern und Schule erziehen dazu, staatliche Autoritäten auf Augenhöhe wahrzunehmen. Hierzu gesellt sich eine latente Wut über alles, was im eigenen Leben oder im Land nicht funktioniert. Dafür wird meist der Staat verantwortlich gemacht, der dann in Uniform, etwa als Polizist, vor einem steht. Ihn nimmt der Bürger nicht mehr als Mitbürger wahr, sondern als Personifizierung des Staates. Die Medien liefern mitunter ein schiefes Bild dieser Konfrontation. So betont Polizeigewerkschaftspräsident Rainer Wendt, dass 80 Prozent der Angriffe auf Polizisten eben nicht auf Demonstrationen passieren, sondern im banalen Alltag. Und der Kriminologe Prof. Behr spricht von einer  zunehmenden Gehorsamsverweigerung der Zivilgesellschaft gegenüber dem Staat. Dabei werden Feuerwehrleute, Rettungskräfte oder Ärzte und Pflegekräfte oft in eben diese Schublade gesteckt.


Respekt dank Fairness

„Unsere Gesellschaft artikuliert, was ihr missfällt, und stellt sich quer, was ja grundsätzlich nicht verkehrt ist“, so Behr. „Viele Polizisten aber nehmen genau das stärker als Widerstand wahr.“ Sie verstünden nicht, dass sich die Aggression eben nicht gegen sie als Individuum richtet, sondern gegen den Staat, den sie mit ihrer Uniform repräsentieren. Ist zunehmende Respektlosigkeit also die Ursache? Sie würde die Angriffe auf Helfer erklären. Doch auch hier gibt es keine allgemeingültige Antwort. „Die Bedingung für Respekt ist Fairness“, bekräftigt Behr. „Respekt ist nicht einfach da, sondern entsteht erst in einer sozialen Interaktion.“ Es bedarf guter Kommunikation, für die sich allerdings nicht jede Gelegenheit eignet: Ein brennendes Haus, ein schwerer Unfall, eine überfüllte Notaufnahme – all diese Situationen erfordern ein  professionelles Vorgehen, wobei oft keine Zeit für Erklärungen oder gar Diskussionen bleibt. Die Zeit ist knapp, was herrisch wirken und zur Eskalation beitragen kann. Mehr als 60 Prozent der tätlichen Angriffe geht von Alkoholisierten aus. „Alkohol ist wie ein Katalysator: Er senkt die Hemmschwelle, hebelt Kontrollmechanismen aus und verstärkt vorhandene Verhaltenstendenzen“, sagt Sozial wissenschaftler Wahl. Wer zur Gewalt neige, wird sich unter Alkoholeinfluss noch schwerer kontrollieren können.


Zunehmendes Maß an Brutalität

Die Neigung zur Gewalt wird durch viele Faktoren bestimmt. Einerseits von biologischen, wie Sensibilität oder Temperament. Noch stärker wirken sich Lernkomponenten aus. „Gewalt ist in aller Regel gelernte Gewalt“, sagt Dr. Ulrich Wagner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg. „Wir lernen von anderen, wie man sie auslebt und zum Erfolg führt.“ Aber auch Frustration, Unzufriedenheit und die Unfähigkeit, Konflikte zu lösen, führten zu gewalttätigem Verhalten. Besonders auffällig und mit einer ganz eigenen Dynamik präsentieren sich aggressive Tendenzen in Gruppen. „Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe führt dazu, andere – die nicht dazugehören – abzuwerten“, sagt Wagner. „Das geht bis zu einer Entmenschlichung der Fremden.“ Vor allem dieser Mechanismus der Abwertung erklärt viele Gewalttaten – übrigens auf beiden Seiten. Denn auch bei Polizisten greifen dieselben gruppendynamischen Verhaltensmuster. „Man sieht die Übergriffe der jeweils anderen Seite gegen die eigene Gruppe gerichtet“, so Wagner. „Das erhöht die Bereitschaft, sich mit Gegengewalt zu revanchieren.“

Auch deshalb sei das Vermummungsverbot sinnvoll, weil eine Anonymität in der Masse derartige Gewaltbereitschaft noch erhöhe. Und doch sind es häufig Einzelne, die zu Tätern werden und Flaschen werfen, Gerätschaften demolieren oder Pflegekräfte drangsalieren. Individuelle, aggressive Täter – ohne Alkoholeinfluss, ohne Gruppenzugehörigkeit, ohne psychische Vorerkrankung. Der Konfliktforscher Professor Dr. Klaus Wahl erklärt die mögliche Entstehung dieser Aggression als Zusammenspiel von Gedanken und Gefühlen: „Diese Menschen mit einem überempfindlichen Sozialradar bewegen sich in einer Welt von Feinden. Das ist zumindest ihr subjektiver Eindruck.“ Sie hätten auffallend oft eine verzerrte Wahrnehmung der Gefühle und Verhaltensweisen anderer Menschen – und interpretierten ein normales Verhalten als provokant, bedrohlich oder aggressiv und gegen sich gerichtet. Oft neigten sie dazu, dem durch eigene Gewalt zuvorzukommen und sich zu wehren. Professor Wagner sieht im Gegensatz zu seinen Kollegen eine Steigerung in der Heftigkeit der Übergriffe. „Seit geraumer Zeit  scheint es bei einigen Tätern ein zunehmendes Maß an Brutalität zu geben“, formuliert er jedoch eher vorsichtig. Das könne – psychologisch betrachtet – zwei Gründe haben: ein großes Maß an Erregbarkeit sowie das Erlernen von Gewalt. „Das Betrachten aggressiver Medien und Computerspiele erhöht die Aggressionsbereitschaft, das ist wissenschaftlich gut abgesichert.“ Menschen seien dann nicht nur eher bereit, mit Aggression zu reagieren, es sei auch die Art beeinflusst, wie reagiert werde. „Der Mensch ist ein lernendes Wesen.“ 

Lösungen sucht jeder für sich. Während Feuerwehren am Image des Helfers arbeiten, verspricht die in Deutschland jüngst verabschiedete Strafmaßerweiterung härtere Konsequenzen für Angriffe auf Polizisten. Sowohl Ärzte als auch Rettungskräfte fühlen sich benachteiligt. Sozialwissenschaftler Wagner sieht das nicht unkritisch: „Welches Signal wird denn da ausgesendet, wenn Übergriffe auf eine Berufsgruppe härter geahndet werden als auf andere?“ Vielversprechender scheinen Wege zu sein, die einen mit kommunikationsstarkem Personal und effizienten Deeskalationsstrategien ausstatten. Moderne Notaufnahmen haben das Problem erkannt und begegnen ihm mit großen, offenen Wartezonen sowie transparenten Aufnahme- und Behandlungsverfahren. Und auch Feuerwehren und Rettungsdiensten ist mit personeller Aufstockung, kürzeren Wartezeiten und Schulungen mehr geholfen als mit höheren Strafen für Gewalttäter. Ein respektvoller Umgang beruht auf Gegenseitigkeit. „Meist sind nicht die Konflikte das Problem, sondern der Mangel an Kompetenz, sie zu lösen“, findet Wagner.