Europa ist blau, tiefblau, mit leuchtend gelben Sternen. So kennen es die Menschen seit Jahrzehnten. Doch seit einigen Monaten ist Europa auch lila, ein satter Farbton, der an die Verpackung von Milka-Schokolade erinnert. Bei Demonstrationen der Bewegung "Pulse of Europe" mischten sich lilafarbene Schilder und Banner zwischen das europäische Blau-Gelb, genauso beim "Women's March" und neuerdings auch bei "Fridays for Future".
Dieses Lila ist die Farbe von Volt, einer neuen Partei begeisterter Europäer, die im Mai in mehreren Ländern zur Europawahl antritt. In den kommenden Wochen haben die Anhänger eine klare Mission: wachsen und bekannter werden.
An einem verregneten Samstagnachmittag hat sich die Regionalgruppe Hamburg versammelt, dicht gedrängt sitzt eine Gruppe von Europa-Enthusiasten im Erdgeschoss der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität. Es ist eine Woche, in der die britische Premierministerin Theresa May und ihr Eiertanz um den Brexit die Titelseiten der Zeitungen bestimmen. Gemessen daran ist die Stimmung im Raum nahezu euphorisch.
An der Tür steht Salar Omar, 32 Jahre alt, und begrüßt jeden, der gekommen ist. Omar, Mediziner im praktischen Jahr, ist zu dieser Zeit Hamburgs "Citylead", wie sie bei Volt ihre regionalen Vorsitzenden nennen. So wie viele Mitglieder engagiert sich auch Omar zum ersten Mal in einer politischen Partei. Die Wahlkampfsprache hat er trotzdem schon drauf: "Wir wollen weder nach links noch nach rechts gehen. Wir wollen geradeaus. Das ist unsere Richtung", sagt er. Ihm gefällt an der neuen Bewegung vor allem der Pragmatismus, den viele der etablierten, struktur- und hierarchiegeprägten Parteien verloren haben. Fakten- und vernunftbasierte Lösungen für die Probleme der Zeit zu finden, das sei einer der wichtigsten Grundsätze von Volt.
Für die Unterstützer, die sich in der Hamburger Uni versammelt haben, zählt aber etwas anderes: der Pro-Europa-Gedanke. Volt positioniert sich als eine Bewegung von aktiven Europäern, die an eine gemeinsame Zukunft glauben. Europakritische, nationalistische Parteien bilden in vielen europäischen Staaten ein starkes Lager. Volt will dagegenhalten. "Mir fehlte eine positiv orientierte, progressive Partei", sagt etwa Cedric Wintraecken. Der Niederländer hat in Nijmegen studiert und ist zum Arbeiten nach Hamburg gezogen. "Wir sollten europäisch denken, statt nationale Grenzen zu fokussieren."
Eine Partei, die von vornherein als gesamteuropäisches Projekt startete, das habe es so bisher noch nicht gegeben, beschreibt Volt auf der eigenen Homepage. Die Dachorganisation ist 2017 in Luxemburg gegründet worden, danach bildeten sich Untergruppen in einzelnen EU-Staaten.
Rund 20000 Unterstützer verzeichnet die Bewegung nach eigenen Angaben bislang, in 13 Ländern sei sie offiziell als Partei registriert.
Die Idee zu Volt entstand nach dem Brexit-Votum. Der Italiener Andrea Venzon und die Französin Colombe Cahen-Salvador beschlossen, Nationalisten in Europa mit einer neuen politischen Plattform etwas entgegenzusetzen. Damian Boeselager studierte mit Venzon Öffentliche Verwaltung in New York City. Dort erlebten sie im November 2016 den Wahlsieg Donald Trumps. "Irgendetwas läuft hier schief", so beschreibt Boeselager, 31 Jahre alt, heute sein Gefühl. Es veranlasste ihn, sich der jungen Bewegung Volt anzuschließen.
Der Name Volt stehe für "Energie und Innovation. Wir wollen mit viel neuer Kraft für Europa nach vorne gehen". Gleichzeitig symbolisiere Volt Disruption, brachiale, revolutionäre Veränderung. "So wie bisher geht es nicht mehr weiter", sagt Boeselager. Wenn ein Auto nicht funktioniere, bringe man es zur Werkstatt. Auch die Europäische Union funktioniere derzeit nicht mehr richtig. "Es gibt Defizite, die müssen repariert und verbessert werden." Volt strebt eine Reform der EU an, mit der es gelingen soll, den Wählern mehr direkten Einfluss auf die Politik zu verschaffen. Das müsste doch auch Europa-Skeptikern gefallen, glauben die Anhänger.
Der Parteivorstand von Volt Deutschland hofft zudem, dass sich große politische Aufgaben wie der Klimawandel, Migration, soziale Ungleichheit oder Terrorismus mit dem Volt-Ansatz besser lösen lassen als bisher: wenn alle Europäer gemeinsam anpacken und nicht, wie jetzt, jedes Land eine eigene Strategie verfolgt. Teil der Reformen soll sein, einen sogenannten Smart State zu schaffen. Ein Europa, das sich als Diener seiner Bürger verstehe, wie es Boeselager formuliert. Dazu sollen Regierungen moderne Technik verwenden und dadurch unter anderem effizienter arbeiten und Korruption bekämpfen, so hat es die Partei festgelegt.
Volt gilt als Bewegung junger Menschen, durchschnittlich sind die Mitglieder 35 Jahre alt. Ausgerechnet die Hamburger Spitzenkandidatin fällt aus dem Rahmen: Helen Wullenweber demonstrierte schon für den Frieden, da waren die meisten ihrer Mitstreiter nicht einmal geboren. Heute ist sie 66 Jahre alt und zitiert Willy Brandts berühmten Leitspruch "Mehr Demokratie wagen": Auch in Europa, sagt sie, sollten die Menschen mehr Demokratie wagen, sie sollten mitentscheiden bei politischen Prozessen, dafür setze Volt sich ein. Intern gelte dasselbe: Die Hierarchien in der Partei seien flach, zurzeit jedenfalls noch, jeder könne mitgestalten.
Der Brexit hätte sie aufgeschreckt, sagt Wullenweber. "Europa steht derzeit am Abgrund. Ich möchte nicht, dass das Projekt scheitert." Etwa zeitgleich zu den Austrittsverhandlungen der Briten ging die Diplom-Chemikerin in den Ruhestand und zog nach Hamburg. "Diese drei Ereignisse fielen zusammen und haben mein Leben radikal verändert. Sie brachten mich auch auf den Gedanken, dass es so wie bisher nicht weitergehen darf", sagt Wullenweber. "Und ich habe nun Zeit, mich für Europa zu engagieren." Inhaltlich möchte sie die gemeinsame Wirtschaftspolitik auf eine solidere Basis stellen, wie sie sagt. "Das heißt auch: keine Steuervermeidung mehr." Außerdem möchte sie die Macht des EU-Parlaments stärken, das von den Bürgern demokratisch gewählt ist. Ihr drittes Anliegen ist ein persönliches: Wie für viele Parteien treten auch für Volt weniger Frauen als Männer zur Wahl an. Durch ihre Kandidatur möchte Wullenweber dafür sorgen, dass der Anteil der weiblichen Kandidatinnen für die Europawahl steigt.
Fünf Abgeordnete will Volt Deutschland für die nächste Legislaturperiode stellen, dafür braucht die Partei ein bis zwei Millionen Stimmen. Eine wichtige Hürde hat sie schon genommen: Mehr als 4000 Unterschriften von Unterstützern - 5373 genau - haben es bis zum Bundeswahlleiter nach Wiesbaden geschafft. Volt Deutschland ist damit offiziell zur Europawahl zugelassen.
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