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Trügerische Preise

Eine Tankfüllung, der Wocheneinkauf, die Pizza im Restaurant: Das war doch alles mal billiger! Das Gefühl trügt. Statistisch gesehen können sich die Deutschen heute mehr leisten als vor 50 Jahren. Nicht für alle ist das ein Trost.


Früher war alles besser. Und vor allem: alles billiger. Gerade ältere Menschen schmieren das den Jüngeren gerne aufs zwölfeinhalb Prozent teurer gewordene Brot. Die Preise steigen. Das weiß jeder, der auf seinen Kassenbon, seine Kontoauszüge, seine Rechnungen oder in die Zeitung schaut. Die Nudeln, das Heizen, das Netflix-Abo, einfach alles ist teurer geworden. Ja, sogar die Ein-Euro-Shops heben ihre Preise an!


Das Gefühl trügt. Zumindest langfristig gesehen ist das Leben in Deutschland gar nicht teurer geworden. Im Gegenteil, sagt Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und zählt eine Reihe von Dingen auf, die in den vergangenen 50 Jahren deutlich erschwinglicher geworden sind: Kaffee, Fernsehgeräte oder Butter etwa. Ganze 20 Minuten mussten die Deutschen 1970 für ein Päckchen Butter arbeiten. Heute sind es im Schnitt nur noch acht.


Höher sind die Preise schon geworden. Aber ihnen stehen doppelt so stark gestiegene Löhne gegenüber. Die Kaufkraft hat sich verdoppelt. Die Deutschen können sich heute von ihrem Geld doppelt so viel leisten wie noch 1970. Sprich: Das Leben ist auf lange Sicht billiger geworden – zumindest sagen das die Zahlen. Aber nicht für jeden ist das ein Trost.

Wenn die Butter heute 47 Prozent mehr kostet als noch vor einem Jahr, dann geht der Satz „Alles ist billiger geworden“ schon etwas schwer über die Lippen. Von den Preisexplosionen bei der Energie ganz zu schweigen. Gas und Öl sind mehr als doppelt so teuer wie im vergangenen Jahr, der Strompreis ist um knapp ein Drittel gestiegen. „Klar schmerzt es, wenn man gerade seine Energierechnung bekommt oder den Wocheneinkauf macht“, gibt Schröder zu. „Aber das sind kurzfristige Effekte. Auf lange Sicht kann man nicht sagen, dass alles teurer wird.“


Ein Blick in die Vergangenheit ist tröstlich, aber oft trügerisch. Ein Pfund Bohnenkaffe gab es damals für umgerechnet 4,31 Euro. Heute kosten 500 Gramm im Schnitt zwar 6,72 Euro. Aber dafür sind nur noch 20 Arbeitsminuten nötig – 1970 mussten die Deutschen dafür fast eine Stunde länger arbeiten.


Und es ist gar nicht so lange her, dass die Preise sogar gefallen sind: 2020, im ersten Pandemie-Jahr, war Öl billig, die Mehrwertsteuer gesenkt. Seit der deutschen Einheit stieg die Kaufkraft pro Lohnminute insgesamt um 27 Prozent. Durch die hohe Inflation flacht sie in jüngerer Zeit wieder etwas ab: Für 2022 schätzt das IW den Kaufkraftverlust auf etwa drei Prozent. Trotzdem ist das auf die vergangenen 30 Jahre betrachtet noch immer eine Steigerung von rund einem Viertel.


Und dann ist da noch der technische Fortschritt, den viele gar nicht als preissenkend wahrnehmen. PCs, Fernseher und Handys leisten immer mehr. Die Technik ist ausgefeilt und zugleich billig wie nie. Wer sich vor 50 Jahren eine Waschmaschine zulegte, musste dafür im Schnitt 145 Stunden arbeiten. Beim heutigen Lohnniveau sind es nur noch 18 Stunden. Gerade da werden gerne falsche Messlatten angelegt. „Man denkt: Wenn man sich vor 30 Jahren einen Golf leisten konnte, muss der auch heute noch drin sein“, sagt Schröder. „Aber mittlerweile ist ein Golf ein ganz anderes Auto, größer und besser ausgestattet.“ Heute ist ein VW Up der vergleichbare Wagen.


Friseure hingegen schneiden Haare im Jahr 2022 genauso schnell oder langsam wie 1970. Ihr Stundenlohn ist gestiegen, wie in allen anderen Bereichen auch. Dienstleistungen und alles, bei dem Personal eine große Rolle spielt, sind teuer geworden. Wer eine neue Frisur will, muss dafür heute zwölf Minuten länger arbeiten als vor 30 Jahren.

Auf lange Sicht sind es also weniger die Preise, die steigen – sondern die Ansprüche. „Wir nehmen vieles als selbstverständlich hin“, sagt Schröder: eine größere Wohnung, Markenschuhe, neue technische Produkte, exotische Lebensmittel. „Früher gab es das in dieser Form nicht.“


Die Älteren, die müssten das doch eigentlich noch wissen. Nur hätten die sich an die gestiegenen Lebensverhältnisse gewöhnt. Oder besser gesagt: an den höchsten Lebensstandard, den es in der Bundesrepublik je gab. Diesen erreichten Status wolle keiner gerne aufgeben, sagt Schröder.


Gleiches gilt für die junge Generation, der gerade inflationär oft gesagt wird, dass das Leben früher billiger war. Dinge, auf die ihre Eltern noch hinarbeiten konnten, die planbar waren und erreichbar, erscheinen für sie ungewiss. Sie sorgen sich, dass sie sich den hohen Lebensstandard, den sie aus ihrer Kindheit gewohnt sind, selbst nicht mehr leisten zu können. Das schürt Zukunftsängste. Mehr als die Hälfte der 15- bis 30-Jährigen sorgt sich um ihre finanzielle Zukunft. Das zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Verzicht, das kennen viele Junge gar nicht.


Eine Wohlstandsdebatte also. Die Deutschen jammern, weil sie verwöhnt sind. „Na ja, es ist ja wirklich vieles teurer“, sagt Schröder. „Vor allem Dinge, die wir tagtäglich brauchen und ohne die es einfach nicht geht.“ Und deshalb fühlt sich für viele die Inflation so viel höher an, als sie tatsächlich ist: Der Mensch nimmt Verluste doppelt so stark wahr wie Gewinne. Verlustaversion nennt man das. Die realen 7,5 Prozent Inflation im Juli fühlten sich für Verbraucher wie 18 Prozent an.


Insgesamt ist das Leben 2022 vergleichbar teuer wie 1991 und halb so teuer wie 1970 – im Schnitt. Und genau da liegt das eigentliche Problem. Solche Zahlen beziehen sich auf das Durchschnittseinkommen. Und das ist ein Mittelwert. Allerdings gibt es heute im Vergleich mehr Menschen, die ein niedrigeres Einkommen haben, als dieser nahelegt.


4100 Euro brutto verdienten die Deutschen durchschnittlich im Jahr 2021. Zwei Drittel wurden aber schlechter bezahlt. Das übrige Drittel wird sehr viel besser entlohnt und treibt den Wert in die Höhe. Das Kräftemessen auf dem Papier entspricht nicht der Lebensrealität vieler Deutscher: Der Median, also das mittlere Einkommen, liegt nur bei etwa 3600 Euro. Betrachtet man diesen Wert, dann muss man für ein Päckchen Butter eine Minute länger arbeiten – das entspricht 12,5 Prozent. Bei Kaffee sind es sogar 15 Prozent.


Viele Einkommen haben mit den Preisanstiegen nicht Schritt gehalten. Im Alltag von Geringverdienenden und der unteren Mittelschicht schlagen sich die wachsenden Lebenshaltungskosten für Miete, Energie und Lebensmittel besonders nieder. Sie machen bei ihnen schon ohne Inflation einen größeren Prozentteil der Ausgaben aus als bei Durchschnittshaushalten.


Die Inflation ist unsozial. Die Preise alltäglicher Konsumgüter wie Essen und Sprit steigen schneller und heftiger als die von Luxuswaren, die sich Schwächere ohnehin nicht leisten können. Besserverdienende können vielleicht nicht mehr so viel sparen wie früher. Aber wirklich einschränken müssen sie ihren Lebensstandard nicht.


Besonders schwache Familien trifft die Teuerung verhältnismäßig stärker, zeigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Ihnen fehlt ohnehin der Puffer für Mehrausgaben, weil sie schon so kaum über die Runden kommen. 13 Millionen Deutsche leben bereits jetzt in Armut. Die Steuerentlastungen konnten laut Studie ihre gestiegenen Kosten nicht auffangen. Wenn bald das Neun-Euro-Ticket und die Tankrabatte auslaufen, werden ihre Geldbeutel noch weiter strapaziert.


Ja, Leben ist teurer geworden, aber nicht für alle. Und teurer ist auch nicht zwingend schlechter. Früher war nicht alles besser. Nicht die Lebensstandards und auch nicht die Qualität unserer Produkte. Wer sich heute einen Fernseher gönnt, muss dafür nur knappe 24 Stunden arbeiten. Die Eltern und Großeltern konnten ihn erst 75 Stunden später kaufen, in deutlich schlechterer Qualität. Und das Teil in den vierten Stock zu schleppen, war auch noch schwieriger: Ein Fernseher wog früher mit rund 45 Kilogramm doppelt so viel wie heute. Der erste brachte sogar mehr als 400 Kilo auf die Waage. So arg viel besser kann es früher also gar nicht gewesen sein.

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