Simon Heitjan wurde vor fünf Jahren bei einem Heimspiel von Werder Bremen gegen den VfB Stuttgart brutal zusammengeschlagen. Bis heute wurde der Täter noch nicht verurteilt.
Aufstieg und Fall können nah beieinander liegen. Das hat Simon Heitjan selbst erlebt. Der Tag, der für ihn zum Albtraum wird, ist ein guter Tag für Werder Bremen. Es ist der 8. November 2014, elfter Bundesligaspieltag, als Heitjan im ausverkauften Stadion sieht, wie Grün-Weiß gegen den VfB Stuttgart gewinnt. Zwei zu null durch Prödl und Bartels, erster Heimsieg der Saison. Werder verlässt vorübergehend die Abstiegsränge. „Damit hatte niemand gerechnet", sagt Heitjan. „Wir waren alle wie im Rausch, völlig euphorisiert." Kurz darauf schlägt ihn ein Stuttgarter Fan zu Boden und tritt ihm ins Gesicht. Bis heute leidet Heitjan an den Folgen.
Ein Nachmittag im Januar, fast fünf Jahre später. Simon Heitjan steht vor dem Weserstadion und zeigt auf die Stelle am Boden, an der man ihn 2014 fast tot getreten hätte. Heitjan tut das beiläufig, macht Scherze. Fast so, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun. „Alles Selbstschutz", sagt er, „sonst kommt man irgendwann nicht mehr klar." So wie jetzt hat er sich den Tag schon etliche Male wieder ins Gedächtnis gerufen. Wirklich verstehen, was ihm damals passiert ist, kann er bis heute nicht.
Simon Heitjan - 31, Dauerkarte, Werder-Tattoo - ist ein auffälliger Typ: 1,96 Meter groß, eine von Aufnähern bedeckte Kutte, der Kopf ist zu einer Glatze rasiert. Freunde beschreiben ihn als gut gelaunt und hilfsbereit. „Meine Freundin meint, ich habe ein Helfersyndrom", sagt er. Er selber spricht lieber von Zivilcourage - auch dann, wenn es um den 8. November geht.
Als Simon Heitjan damals das Stadion verlässt, habe sich bei einer Gruppe von Stuttgartern Frust und Enttäuschung aufgestaut, sagt er. Das geht auch aus einem Polizeibericht hervor. Auf dem Weg zu den Bussen brechen sie immer wieder aus der Polizeibegleitung aus, laufen den Osterdeich hinauf, geraten dort mit Bremer Fans aneinander. „Die Stuttgarter wollten die Niederlage nicht auf sich sitzen lassen", vermutet Heitjan. Werder-Fans befeuern die aggressive Stimmung. Die Polizei muss mehrfach eingreifen.
Auch Heitjan geht an diesem Tag zum Parkplatz am Osterdeich, 400 Meter östlich des Stadions. Dort steht der Bus seines 600 Mitglieder starken Fanclubs „Green-White Divine Supporters Gnarrenburg". Als erster Vorsitzender organisiert er regelmäßig die Fahrten einiger Mitglieder von den Dörfern aus und zurück. Heitjan will auf dem Parkplatz noch ein Bier trinken und warten, bis die anderen abfahren, sagt er. Dann will er mit Freunden in seine Stammkneipe, das „Bonanza", gehen. Doch schon auf dem Parkplatz ist für Simon Heitjan Schluss.
Erneut kommt es dort zu Auseinandersetzungen. Als ein Stuttgarter einem Werder-Fan in den Rücken tritt, habe Heitjan das nicht mit ansehen können, sagt er. Er greift ein. Sofort habe er sich im Pulk verloren, sei umringt von fremden Menschen und Fäusten gewesen. „Ich wollte da einfach nur raus", sagt er. Doch dafür ist es schon zu spät.
Bis heute kann sich Heitjan an das, was danach passiert ist, nicht erinnern. Sein Kopf hat die entscheidenden Sekunden gelöscht. Den genauen Tathergang kennt er deshalb nur von Polizisten und Freunden: Mit dem ersten Schlag geht Heitjan zu Boden. Dann zertrümmert man ihm Teile des Schädels. Ein Tritt, mit Anlauf aus mehreren Metern Entfernung, trifft ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Während Heitjan wieder zu sich kommt, schleift ihn ein Polizist den Osterdeich hinauf.
Der Täter, sagt ihm ein Freund, sei in den Fanbus geflüchtet. Dort hätten die Stuttgarter das Licht ausgeschaltet, untereinander die Kleidung gewechselt, um den Schuldigen zu decken. Drei Polizisten wollen ihn trotzdem erkannt haben. Ihnen zufolge handelt es sich um einen 22 Jahre alten Stuttgarter der „Fan-Kategorie C". Das steht für „gewaltsuchender Fan", oft auch als Hooligan bezeichnet. Wenn von Hooligans die Rede ist, dann geht es meist um Gewalt, nicht länger um den Fußball.
„Gewalt ist ein Thema, das den Fußball seit Jahrzehnten begleitet", sagt Jonas Gabler. Als Fanforscher ist er mit Fußballfankulturen und der Hooligan- und Ultraszene vertraut. Ihm zufolge ist Simon Heitjan kein Einzelfall. „Von solchen Fällen höre ich immer mal wieder", sagt Gabler. Eigentlich gelte ein Angriff auf Unbeteiligte in der Hooliganszene als Tabu und verpönt. „Am Rande der Szene gibt es aber immer wieder Profilierungsbedarf, um Anerkennung zu bekommen". Auch traditionelle Männlichkeitsbilder beim Fußball und der Drang, Stärke zu beweisen, spielen Gabler zufolge in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Heitjan wird ins Krankenhaus gebracht. Dort, sagt er, hätten ihn die Ärzte erst überhaupt nicht ernst genommen. „Man hat mich stundenlang auf dem Flur sitzen lassen." Als er sich mehrfach übergeben muss, drückt ihm eine Krankenschwester einen Mülleimer in die Hand. Die Augen sind mittlerweile so geschwollen, dass er nichts mehr sehen kann. Die Ärzte vermuten eine gebrochene Nase.
Kritik an PolizeieinsatzErst zehn Tage später, als Heitjan schließlich operiert wird, wird ihnen klar, wie ernst es ist: Stirnbein, Jochbein und Nase sind gebrochen, dazu hat er ein Schädel-Hirn-Trauma, der Oberkiefer hat sich vom Schädelknochen gelöst. Um das Gesicht zu richten, setzen die Ärzte Heitjan fünf Metallplatten unter die Haut. Sie sagen ihm, dass er nun erstmal nicht mehr arbeiten könne, mindestens ein Jahr nicht, dann werde man sehen. Nach 18 Tagen wird Simon Heitjan in ein anderes Leben entlassen.
Die Tage und Wochen, die folgen, sind zäh. Statt zur Arbeit in ein Logistikunternehmen geht Heitjan jetzt nur noch ins Wohnzimmer, sitzt stundenlang einfach nur da. Immer wieder sei seine rechte Gesichtshälfte angeschwollen, sagt er, die Sendungen im Fernsehen habe er schon bald nicht mehr sehen können. „Klar, geht´s einem da scheiße", sagt Heitjan. „Das Schlimmste ist die Ungerechtigkeit. Dass man selber drinnen hockt und der Schuldige frei rumläuft."
Seine Liebe zum Fußball ist ungebrochen. Schon drei Woche nach der Operation geht Heitjan wieder ins Stadion, verfolgt dort, wie Werder gegen Paderborn gewinnt. „Mein Hobby wollte ich mir nicht nehmen lassen", sagt er. „Ich bin niemand, der sich hängen lässt." Es sei komisch gewesen, das erste Mal zurück im Stadion zu sein. Doch Angst habe er nicht gehabt, nicht vor anderen Leuten. Nur davor, auf den Kopf zu fallen. Auf den muss Heitjan jetzt besonders aufpassen.
Gründung seiner eigenen MarkeZuhause entwirft er Fußball-Fanartikel. Das habe er schon vorher gemacht, sagt er. Nun aber gründet er eine eigene Marke. Hanseproud nennt er die, „weil ich stolz bin, Bremer zu sein." Sein Logo - ein Löwe, der den Bremer Schlüssel hält - ziert nun T-Shirts, Mützen und Pullover. Die verkauft er im Internet. Schon bald sieht er damit Menschen im Supermarkt. „Das hat mich beflügelt", sagt Heitjan. Es geht bergauf.
Solange, bis er dem mutmaßlichen Täter zum ersten Mal gegenüber sitzt. Keine zehn Meter trennen die beiden, als im Dezember 2016 das Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung am Bremer Amtsgericht beginnt. „Viel zu spät", wenn es nach Heitjan geht. Der Angeklagte ist kein klassischer Schlägertyp. Heitjan beschreibt ihn als unauffälligen Mann, „Schwiegermutters Liebling, so ein richtiges Unschuldslamm." Neben dem Angeklagten nimmt Waltraut Verleih Platz, eine Strafverteidigerin aus Frankfurt. Sie ist bekannt, sagt Heitjan, habe zuvor schon ähnliche Fälle erfolgreich vertreten.
Es habe unzählige Indizien gegeben, die gegen den Angeklagten sprechen, sagt Heitjan. Drei Polizisten sagen aus, ihn sicher erkannt zu haben. Sie beschreiben seinen „hasserfüllten Blick", als er auf Heitjan zurast. Die Schilderung des Tathergangs habe ihn erschüttert, sagt Heitjan, beim Angeklagten aber habe sich nichts geregt. Der habe geschwiegen, sei Blicken ausgewichen. „Wenn einem so etwas Schlimmes vorgeworfen wird, dann will man es doch sofort abstreiten?"
Weil inzwischen zwei Jahre vergangen sind, können sich die Zeugen nicht mehr an alle Details erinnern. Der mutmaßliche Täter wird freigesprochen. „Der Moment...", sagt Heitjan, dann bricht er kurz ab. „Der Moment war einfach nur schlimm."
Nach der Verhandlung geht Heitjan ins „Bonanza" und trinkt Bier, viel Bier. Am nächsten Tag legt er Berufung ein; er will den Angeklagten verurteilt sehen. Im Mai 2018 wird der Fall erneut verhandelt, diesmal vor dem Bremer Landgericht. Der Angeklagte nach vier Verhandlungstagen freigesprochen - weil er maskiert war, konnte der Täter nicht eindeutig identifiziert werden. „Restzweifel bleiben", habe die Richterin damals gesagt - „und im Zweifel für den Angeklagten." Mehrere Versuche des WESER KURIER scheitern, die Anwältin des Angeklagten, Waltraut Verleih, per Telefon und E-Mail zu kontaktieren.
Dass es in Fällen wie diesem nicht zu einer Verurteilung kommt, hält Fanforscher Jonas Gabler für ein „problematisches Signal". Beim Fußball gebe es immer wieder hysterische Debatten um relativ harmlose Vorkommnisse. „Der von Heitjan beschriebene Fall ist wirklich drastisch - trotzdem schaut niemand hin."
Simon Heitjan ist sicher, dass es Beweismaterial gibt, das bis heute nie genutzt wurde. Videoaufnahmen der Überwachungskameras vor dem Stadion zum Beispiel, oder weitere Zeugenaussagen. Mehrere Tausend Euro habe ihn das Gerichtsverfahren gekostet. Aber darum gehe es ihm gar nicht, sagt Heitjan. Nicht um Geld, nicht um Rache, nicht darum, die Zeit zurückzudrehen. „Ich will es nur verstehen, das ist alles."
Heute arbeitet Heitjan als Logistikmanager bei einem Onlinehändler für Kaffee. Er hat eine Ausbildung als Fachkraft für Lagerlogistik gemacht, geht nebenberuflich zur Meisterschule. „Das hätte ich sonst vermutlich nie gemacht", sagt er. Er sei froh, dass das jetzt alles endlich vorbei ist. Vergessen aber könne er nicht, „wie auch". Was bleibt, auch nach fünf Jahren, sind Fragen: Warum es ausgerechnet ihn getroffen hat, der doch nur helfen wollte. Und, ob er jemals eine Entschuldigung hören wird.
Zur SacheMehr als 21 Millionen Zuschauer besuchen Saison für Saison die Fußballspiele in den drei deutschen Profi-Ligen. Dabei sind in 2017/2018 insgesamt 1213 Menschen verletzt worden. „Die Zahl belegt: Gewalt bei Fußballspielen ist weiter ein Problem", sagte Heike Schultz bei der Präsentation des Jahresberichts der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) im vergangenen Herbst.
Unter den Verletzten waren 487 Unbeteiligte, 345 Störer, 304 Polizisten und 77 Ordner. Aktuell wertet das ZIS in Zusammenarbeit mit der Polizei die Daten für die abgelaufene Saison aus. Sie werden im vierten Quartal dieses Jahres präsentiert. Für die vorletzte Saison sind 6921 Straftaten erfasst worden. Die Polizei führte mehr als 10 000 Fest- und Ingewahrsamnahmen durch.
Die Vereine sprachen 1121 Stadionverbote aus. Im Ranking der Straftaten liegt Körperverletzung mit großem Abstand vorn, gefolgt von Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, also das Zünden von Pyrotechnik und das Abschießen von Raketen. Weitere Verfahren wurden wegen Sachbeschädigung, Landfriedensbruch und Widerstand eingeleitet.
Die letzten Ausschreitungen in Bremen waren 2017In Bremen sorgten zuletzt im Dezember 2017 nach dem Bundesliga-Spiel gegen Mainz 05 Prügeleien zwischen Bremer Ultras und Bremer Hooligans im Viertel für Aufsehen. Rund zweieinhalb Jahre vorher hatten 60 Vermummte, sogenannte Problemfans, hundert Augsburger Fans attackiert.
Dabei waren unter anderem drei szenekundige Polizeibeamte, zwei aus Bremen, einer aus Augsburg, verletzt worden. Drei Werder-Fans waren im Oktober 2016 beim Drittliga-Spiel in Kiel Opfer von Gewalt geworden. Sechs Kieler Hooligans hatten die Bremer angegriffen und im Gesicht verletzt, zwei von ihnen mussten ins Krankenhaus. Die Täter wurden später zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde am 10. Juli, 19.30 Uhr, korrigiert. Zum Original