Nico Oppel, 40, gebürtiger Bremer, ist Diplom-Sozialpädagoge. Seit sieben Jahren arbeitet er für den Martinsclub, leitet dort den Wohnbereich.
Nico Oppel: Oft nicht. Es gibt immer noch eine Vielzahl an Menschen mit Beeinträchtigung, die nicht so leben und wohnen können, wie es die Behindertenrechtskonvention vorsieht.
Wie wohnen sie denn?Viele leben in Wohnheimen, können sich dort nicht aussuchen, mit wem sie zusammenleben und wie. Mit Inklusion hat das nichts zu tun. Das sind Sonderwelten. Auch im Martinsclub gibt es diese Sonderwelten. Den Menschen dort geht es gut und vor Ort wird gemeinsam tolle Arbeit geleistet. Aber das ist nicht das, wie ich mir ein Wohnen vorstelle. Wir brauchen auch für Menschen mit erhöhtem Hilfsbedarf mehr ambulante Wohnformen. Oft heißt es: Die können doch gar nicht alleine wohnen, wie soll das gehen? Aus Erfahrung kann ich sagen: Doch, das können sie! Das geht.
„Alles stinknormal hier, nur mit Extras"
Was heißt denn Inklusion?Nico Oppel: Inklusion bedeutet, auf Augenhöhe mit Menschen zu agieren, dass wechselseitige Beziehungen stattfinden. Respekt.
Bremen ist da als sehr fortschrittlich bekannt.Nico Oppel: Bremen hatte im Bereich Inklusion immer eine Vorreiterrolle, ja, ist auch jetzt auf einem guten Weg. Zurzeit habe ich Angst, dass wir von diesem Weg wieder abkommen. Nicht nur durch Corona und damit verbundene Veränderungen, sondern auch durch gesellschaftliche Stimmungen, die sich breitmachen, durch einen Rechtsruck. Meinen Kollegen sage ich immer: Die Arbeit, die wir in der Behindertenhilfe leisten, ist demokratieerhaltend. Wir unterstützen Menschen dabei, genauso Teil einer Gesellschaft zu sein wie alle anderen auch.
Wie lässt sich das im Wohnen umsetzen?Nico Oppel: Das ist ein Auftrag, der an der Politik liegt, aber auch an uns, an der Trägerlandschaft in der Behindertenhilfe. Wir müssen Ideen und Konzepte entwickeln, die besser auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung zugeschnitten sind. Das heißt zuzuhören und zu fragen: Was braucht ihr eigentlich? Wie wollt ihr wohnen? Aber auch: Möglichkeiten aufzuzeigen. Viele Menschen mit Beeinträchtigung wissen gar nicht, dass es Alternativen zu Wohnheimen und zum Elternhaus gibt.
Eine Alternative lautet: inklusive WG. Für den Martinsclub haben Sie eine solche in Schwachhausen aufgebaut. Wie kam das?Nico Oppel: Der Gedanke spukte schon länger in mir. Ich habe vor acht Jahren eine inklusive WG in München besucht, die das dort schon seit den 90ern machen. Ich war echt begeistert, wie gut das funktioniert. Gleichzeitig habe ich mich gewundert, dass es das noch nicht in Bremen gibt.
Ja, warum eigentlich nicht?Nico Oppel: Weil es hier in Bremen damals eine fachliche Weisung gab, die dem im Weg stand. Darin stand: Wenn Menschen mit einer Beeinträchtigung mit nicht-behinderten Menschen zusammenleben, können erstere die Leistung einer Eingliederungshilfe nicht in Anspruch nehmen.
Klingt kompliziert. Was heißt das?Nico Oppel: Der Martinsclub etwa kann dann als Träger nicht vor Ort sein, nicht assistieren, weil wir über die Eingliederungshilfe finanziert werden. Dadurch war die Wohnform einer inklusiven WG nicht umsetzbar. Um das zu ändern, musste ich gegen Windmühlen kämpfen. Das hat gedauert, war anstrengend. Aber wir haben immer gesagt: Wir machen es jetzt einfach. Wir ziehen das durch.
Mit Erfolg: Drei Jahre später sind in Bremen erstmals acht Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammengezogen. Wie läuft es bisher in der inklusiven WG?Nico Oppel: Meiner Meinung nach sehr gut. Aber, das muss man auch sagen: Es steckt ein Träger dahinter. Das ist keine reine Form der Inklusion, keine, die natürlich erwachsen ist. Aber es kann ein Leuchtturm sein, kann andere dazu inspirieren, das auch zu tun. Wir haben aufgezeigt: Es geht. Das Konzept lässt sich auch auf ältere Menschen mit Hilfsbedarf übertragen.
Was drei Bewohner im Alltag einer inklusiven WG erleben
Aber wenn es geht, wenn es gut läuft: Warum gibt es in Bremen bisher nur zwei inklusive WGs, deutschlandweit etwa 50?Nico Oppel: Das ist wenig. Ehrlich gesagt habe ich da keine Antwort drauf. Vielleicht der fehlende Mut. Und eine Frage der Refinanzierung. Mit inklusiven Wohnprojekten kann man nicht großartig Geld verdienen. Gleichzeitig werden die alten Wohnkonzepte auf Dauer nicht mehr gefragt sein. Wir als Träger müssen uns, auch wirtschaftlich gesehen, dem Markt anpassen. Denn von außen wächst der Druck.
Inwiefern?Eltern, die heutzutage ein Kind mit Behinderung bekommen, wachsen mit der UN-Behindertenrechtskonvention auf, haben einen ganz anderen Anspruch an das Leben ihrer Kinder. Die sagen: „Herr Oppel, mein Kind wurde inklusiv beschult. Kommen Sie mir bitte nicht mit Wohnheim um die Ecke." Die Nachfrage nach Alternativen ist da. Wenn wir einen Platz in der WG freihaben, dann ist der immer direkt wieder belegt.
Warum sollte ich als Mensch ohne Behinderung in eine inklusive WG ziehen?Weil Menschen ohne Behinderung hier eine komplett andere Sichtweise auf das Leben, auf Gemeinschaft kennenlernen. Manche ziehen mit einer rosaroten Brille ein. Wenn sie ausziehen, haben sie nicht nur erlebt, sondern gelebt, was Inklusion bedeutet.
„Neele ist die Sprecherin, wir sind der Verstärker"
Was sind die Herausforderungen?Die Bewohner ohne Beeinträchtigung erleben nicht selten einen Rollenkonflikt. Sie wohnen dort, gleichzeitig sind sie Assistenten, Freunde, manchmal im Unistress. Es gibt Phasen, in denen das Zusammenleben sehr gut funktioniert und Phasen, in denen es schwierig ist. Manchmal knallt es eben auch in der Bude. Das gehört dazu.
Wie ist das für die Menschen mit Beeinträchtigung, wenn es mal knallt?Die Bewohner mit Beeinträchtigung haben in den drei Jahren gelernt, sich stark und klar zu positionieren. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Die sagen auch mal: Nein, so geht das nicht. Das macht mich stolz. Und daran messe ich den Erfolg dieses Projekts. Denn es macht deutlich: Inklusives Wohnen ist ein Lernprozess. Und inklusives Wohnen funktioniert.
Zur PersonNico Oppel, 40, gebürtiger Bremer, ist Diplom-Sozialpädagoge. Seit sieben Jahren arbeitet er für den Martinsclub, leitet dort den Wohnbereich. Sein Bestreben: Oppel will stationäre Wohnheime mehr und mehr auflösen und in ambulante Wohnformen umwandeln.