Wie die Corona-Pandemie Trauernde zusätzlich belastet.
Darf ich meine Familie in den Arm nehmen, wenn gerade mein Opa verstorben ist? Meine Oma herzen und ihr ganz nah sein im Moment der Trauer? Mir bleibt eine Bahnfahrt Zeit, um über diese Frage nachzudenken. Eine Stunde in einer menschenleeren S-Bahn auf dem Weg von Mainz nach Hanau zu meiner Familie. Der Verlust eines nahen Verwandten setzt alle Gesetzmäßigkeiten des Alltags außer Kraft. Auf einmal ist alles anders, ungewohnt, unnormal. In Zeiten der Corona-Pandemie trifft der innere Ausnahmezustand auf eine Welt im Ausnahmezustand.
Zwei Stunden nach mir trifft auch der Bestatter bei meiner Oma zu Hause ein. Mehr als 2000 Menschen sterben deutschlandweit pro Tag. Die Arbeit des Bestatters ruht auch jetzt nicht, sie wird nur umständlicher. Was der Bestatter noch nicht wissen konnte, als er sich ins Auto setzte und zum Hausbesuch aufbrach: Das Land Hessen ordnet in diesen Minuten an, dass sich wegen der Corona-Pandemie ab jetzt nur maximal fünf Personen öffentlich versammeln dürfen. Gilt diese Regelung auch für Beerdigungen? Gibt es Ausnahmen? „Mh“, sagt der Bestatter und zuckt mit den Schultern. Bisher waren meine Familie und ich von diesen Regeln ausgegangen: Unter freiem Himmel hätte jüngst noch eine Beisetzung mit 50 Angehörigen stattfinden dürfen. In der Kapelle wäre allerdings jeder zweite Stuhl frei geblieben, um ausreichend Abstand einzuhalten.
Das Wort, das gestern galt, muss in diesen bewegten Zeiten morgen keinen Bestand mehr haben. Keine zwei Tage nach dem Gespräch mit dem Bestatter beschränkt die landesweite Kontaktsperre Zusammentreffen auf maximal zwei Personen. Im öffentlichen Raum gilt jetzt ein Mindestabstand von mindestens anderthalb Metern. Doch wie viele Menschen sich im Freien zu einer privaten Feier versammeln dürfen, ist nicht einheitlich geregelt. In Hessen gilt die Auflage, dass sich bei einer Beerdigung bis zu zehn Personen versammeln dürfen. Mit dem Zusatz: Stand jetzt.
Sind dabei Pastor, Organist und Sargträger eingerechnet? „Nein, das bedeutet: zehn Trauernde“, sagt der Bestatter. „Also, glaube ich. Derzeit ist das zumindest so geregelt.“ Das Gespräch mit dem Bestatter liefert mehr Fragen als Antworten. Auch für Menschen, für die der Tod zum beruflichen Alltag gehört, ist die Lage unübersichtlich. Der Bundesverband Deutscher Bestatter beklagt, dass der Berufszweig bisher nicht bundesweit als systemrelevant eingestuft sei. Das sei jedoch wichtig, damit die etwa 4500 Bestattungsfirmen in die Notfallpläne der Länder aufgenommen und mit Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel versorgt würden.
Der Friedhofswärter arbeitet im Home-Office, Trauerzeremonien finden im Freien statt
Trotz täglicher Hausbesuche und regelmäßigen Kontakts zu älteren Menschen können viele Bestatter Mundschutz, Desinfektionsmittel oder Einweghandschuhe nicht mehr so einfach käuflich erwerben. Auch der Ablauf der Trauerfeiern ist plötzlich nicht mehr klar. Zahlreiche Kommunen schließen ihre Kapellen und Andachtsräume und verlegen die Trauerzeremonie stattdessen nach draußen. Andernorts arbeiten Bestatter und Seelsorger an Konzepten, wie sich alle Trauernden kondolierend vor dem Sarg versammeln können, ohne dabei zu dicht gedrängt zu stehen. Auch Friedhofswärter sind im Home-Office, betreten ihren eigentlichen Arbeitsplatz nur zu Beisetzungen. Vielerorts wird die Zahl der Sargträger auf ein Minimum reduziert.
Sich nahe sein, ohne sich zu nahe zu kommen. Füreinander da sein und zugleich Distanz wahren. Es ist eine Gratwanderung. Mir wird bewusst, dass Beerdigungen dieser Tage schwer planbar sind, dass sie keinem festen Schema folgen. Nicht für mich, nicht für den Bestatter, Organisten oder Pfarrer. Die Pfarrerin der Gemeinde meldet sich kurz nach meiner Ankunft bei meiner Familie. Sie sei selbst in Quarantäne, eine Vorsichtsmaßnahme nach der Rückkehr aus ihrem Skiurlaub. Für die nächsten zwei Wochen könne sie keine Trauerfeier begleiten.
Ist es egal, wie viele Menschen am Grab stehen?
Es fühlt sich falsch an, in dieser Gemengelage von einer glücklichen Fügung zu sprechen. Aber eine Einäscherung, wie sie sich mein Opa gewünscht hat, hat dieser Tage zumindest den Vorteil, dass die Urne auf unbestimmte Zeit aufbewahrt werden kann. Erdbestattungen müssen innerhalb weniger Tage stattfinden, notfalls auch ohne die Angehörigen. Ich suche ein Bild von meinem Opa heraus. Zu Lebzeiten hat er eine genaue Excel-Liste angelegt, um festzuhalten, wie er sich seine Beerdigung wünscht. Die Traueranzeige mit Foto soll in Lokalzeitung und Stadtmagazin erscheinen. Beides hat er liebend gerne gelesen.
Doch das Stadtmagazin pausiert in den kommenden Wochen, sodass nur die Traueranzeige für die Lokalzeitung bleibt. Während ich mich von Bild zu Bild durch die Fotoalben blättere, wächst in mir der Gedanke, dass es letztlich egal ist, wie viele Menschen am Ende an seinem Grab stehen. 5, 50 oder 500. Was bleibt, ist die Erinnerung an unvergessliche Momente mit einem tollen Menschen. Das ist stärker als jede Krise und verbindet alle, auch diejenigen, die nicht persönlich an der Beisetzung teilnehmen können.
Natürlich hätte ich meinen Opa gerne noch auf den letzten Metern seines Lebens begleitet, ihn im Krankenhaus besucht und mich von ihm persönlich verabschiedet. Ich stelle mir vor, wie er sich zu mir beugt und fragt: „Na, mein Großer, wie geht es dir?“, dann sein Hörgerät lauter stellt und den Fernsehton am Krankenhausbett abdreht. Er hat immer zuerst gefragt, wie es den anderen geht, bevor man selbst die Chance hatte, sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Mit seiner Krebserkrankung war er dabei zuletzt Dauergast im Klinikum.
Die Besuche bei ihm habe als traurig-schön in Erinnerung. Traurig, weil er sich als passionierter Radfahrer und Bewegungsmensch nur noch unter Schmerzen vom Rücken auf den Bauch drehen konnte. Immerzu blinkten und piepten Geräte, um deutlich zu machen, dass wieder Blutwerte nicht stimmten oder der Puls kritische Regionen erreichte. Er hat die schrillen Töne der Klinikgeräte oft mit klassischer Musik übertönt und sich lange Klaviersonaten direkt über sein Hörgerät ausspielen lassen. Wenn er schon nicht mehr musizieren konnte, wollte er die Musik wenigstens hören.
Es war immer schön zu erleben, wie mein Opa trotz seiner Erkrankung weder seinen Lebensmut und noch seinen Humor verlor. Wie er mir vorschlug, nach seinem Klinikaufenthalt nochmal als Fußballprofi durchzustarten. Eine schlechtere Figur als die Spieler von Werder Bremen würde er schon nicht abgeben, spottete er über meinen Herzensverein. Bei seinem letzten Klinikaufenthalt war es nicht möglich, sich nochmal persönlich zu sehen, über Fußball zu fachsimpeln, seinen Ausführungen über klassische Musik zuzuhören oder auch nur leise Lebewohl zu sagen.