Helen Bielawa

Freie Journalistin, Bielefeld

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Artikel

Coronaimpfstoffe: Sicherer wird's nicht

Die Coronaimpfung löst noch immer bei zu vielen Menschen Skepsis aus. Eine Sorge der Zögernden: Die Coronaimpfstoffe wurden schneller entwickelt und zugelassen als bisherige Impfungen. Sie fürchten deswegen, dass die im Eilverfahren etablierten Vakzinen nicht sicher sind. Manche fühlten sich bestätigt, als im Frühjahr beim Impfstoff von AstraZeneca erste Berichte über zuvor unbekannte mögliche Nebenwirkungen aufkamen.

Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt kaum besser begutachtete Impfstoffe als die Coronavakzinen, die hohe öffentliche Aufmerksamkeit und die vielen verabreichten Dosen sorgen dafür, dass unerwünschte Nebenwirkungen schnell auffallen. "Da innerhalb weniger Monate allein in der EU Hunderte Millionen Menschen geimpft wurden, ist davon auszugehen, dass auch äußerst seltene schwerwiegende Nebenwirkungen erkannt werden", erklärt Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte hätten gezeigt, dass Nebenwirkungen meist innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten aufträten. Deshalb dürften inzwischen alle Nebenwirkungen erkannt worden sein.

Dazu beigetragen haben die vielen Meldungen über vermutete Nebenwirkungen. Zum Beispiel diese: Bei einer erwachsenen Frau wird Anfang des Jahres eine Sinusvenenthrombose und ein Mangel an Thrombozyten im Blut diagnostiziert. Sie war zuvor mit dem Coronaimpfstoff von AstraZeneca geimpft worden. Der Verdacht steht im Raum, dass die Impfung die Verstopfung der Blutgefäße verursacht haben könnte. Am 14. März geht eine entsprechende Meldung bei der Europäischen Arzneimittelagentur (Ema) ein. Auch nach diesem Zeitpunkt gibt es Dutzende ähnliche Verdachtsmeldungen. Ende März nimmt die Ema die Sinusvenenthrombose in Kombination mit Thrombozytopenie in die Liste der seltenen Nebenwirkung des AstraZeneca-Präparats auf.

Unterschiedlich viele Verdachtsmeldungen

Solche Meldungen sind wichtig, damit auch die Nebenwirkungen auffallen, die in den Zulassungsstudien nicht erkannt werden. Denn in diesen Studien bekamen jeweils nur bis zu 18.000 Personen den Impfstoff. Wenn aber Millionen von Menschen eine Impfung bekommen, fallen auch seltenste Nebenwirkungen auf.

Ein europaweiter Vergleich zeigt, dass nicht alle Staaten gleich viele Verdachtsfälle melden. Die Niederlande, Österreich und Island melden im Verhältnis zu den verabreichten Dosen mehr mögliche Nebenwirkungen an die Ema als Deutschland.

Das PEI selbst vermeldet in seinem aktuellen Sicherheitsbericht eine etwas höhere Quote von 16 Meldungen je 10.000 Impfungen. Vergleicht man die Datenbank der Ema mit den Zahlen des PEI, fällt auf, dass dem PEI tatsächlich fast 50.000 deutsche Meldungen mehr vorliegen als der Ema.

Gehe es nicht um schwerwiegende Verdachtsfälle, habe das PEI 90 Tage Zeit, um die Meldungen an die Ema weiterzuleiten, erklärt PEI-Präsident Cichutek die unterschiedlichen Zahlen. Bei den meisten Meldungen geht es um vergleichsweise harmlose Impfreaktionen wie Kopfschmerzen oder Schmerzen an der Einstichstelle, die meist nach wenigen Tagen wieder verschwunden sind. Für die Sicherheit der Impfstoffe seien aber die schwerwiegenden Reaktionen besonders wichtig, so Cichutek. Die trage das PEI innerhalb von 15 Tagen in die Ema-Datenbank ein.

Unterschiedliche Meldekulturen

Selbst wenn man die PEI-Quote von 16 Meldungen pro 10.000 Impfdosen zugrunde legt, bleibt ein deutlicher Unterschied zu den Niederlanden, Island und Österreich. "Die Unterschiede könnten auf unterschiedliche Meldekulturen in den jeweiligen Ländern zurückzuführen sein", teilt die Ema auf Anfrage mit. Kampagnen, Diskussionen in den Medien und leicht zugängliche Tools für das Melden könnten die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger stärken - und letztlich zu mehr Meldungen führen. Solche Unterschiede gibt es demnach auch bei anderen Arzneimitteln, nicht nur bei den Coronaimpfstoffen.

Das niederländische Gesundheitsministerium hat etwa Kampagnen in den sozialen Medien geschaltet und Plakate in den Impfzentren aufgehängt, so ein Sprecher des Ministeriums. In Österreich habe jede Person nach der Impfung ein Kärtchen mit einem QR-Code bekommen, der direkt zum Meldeformular führte, sagt Erwin Forster, Sprecher des österreichischen Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen. Transparente Kommunikation über Nebenwirkungen sei besonders wichtig, fügt Forster hinzu. So sähen die Menschen, "dass auch etwas mit den Meldungen gemacht wird, dass es sinnvoll ist, die Informationen zu teilen."

Ob die deutsche Bevölkerung ihre Möglichkeiten zur Verdachtsmeldung genauso gut kennt, ist fraglich. Hierzulande lassen sich Impfreaktionen und mutmaßliche Nebenwirkungen etwa über ein Onlineformular melden oder mit der Smartphone-App SafeVac. Doch die wurde bis Ende September laut PEI von gerade einmal gut 712.000 Personen genutzt - bei damals rund 57 Millionen Geimpften. Viele Meldungen stammen aber auch aus Arztpraxen und Krankenhäusern. Nach Ansicht des PEI ist der Meldeprozess "bei allen Betroffenen gut bekannt". Die vorliegenden Verdachtsmeldungen ergäben ein "ausgezeichnetes Lagebild".

Beipackzettel sind gewachsen

Seit Beginn der Impfkampagne sind bei der Ema über eine Million Verdachtsmeldungen aus ganz Europa zusammengelaufen. Viele davon enthalten leichte, bekannte Nebenwirkungen oder hängen gar nicht mit der Impfung zusammen. Aber bestimmte seltene Nebenwirkungen sind dank der Meldungen neu entdeckt und in den Beipackzettel aufgenommen worden.

Fieber, Schüttelfrost und andere grippeähnliche Beschwerden gehören zu den erwarteten, aus den Zulassungsstudien bekannten, Impfreaktionen. Sie zeigen, dass der Körper sich mit der Impfung auseinandersetzt. Entzündungen des Herzbeutels und Herzmuskels wurden im Juli als sehr seltene Nebenwirkung beim Biontech-Präparat Comirnaty identifiziert. Die gesammelten Meldungen reichen noch nicht aus, um die genaue Häufigkeit zu bestimmen. Fest steht: Die Entzündungen sind sehr selten.

Ein anderes prominentes Beispiel für eine erst nach der Zulassung erkannte Nebenwirkung: Hirnvenenthrombosen im Zusammenhang mit einem Mangel an Blutplättchen nach einer AstraZeneca-Impfung. In Deutschland hatten sieben Meldungen darüber im März zu einem vorübergehenden Stopp der Impfungen geführt. Nachdem ein europäisches Expertengremium Entwarnung gegeben hatte, ging die Impfung weiter. Die deutsche Ständige Impfkommission empfahl sie aber nur noch für Menschen über 60.

Vom ersten Auftreten einer Nebenwirkung bis zu einer Reaktion der Behörden durchlaufen die Verdachtsmeldungen mehrere Schritte:

Die einzelnen Verdachtsmeldungen lassen also noch keine Aussage über tatsächliche Nebenwirkungen zu. Erst nach wissenschaftlichen Analysen steht fest, ob es sich um eine Nebenwirkung oder schlicht um Zufall handelt.

Das wird besonders deutlich mit Blick auf die gemeldeten Todesfälle. Bis Ende September lagen dem PEI 8002 Verdachtsmeldungen über Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit einer Coronaimpfung vor. Einige Betroffene hatten sich kurz vor oder nach der Impfung mit Covid-19 infiziert und verstarben daran. Bei anderen ist der Tod auf Vorerkrankungen zurückzuführen - vor allem bei sehr alten Menschen, die zu Anfang priorisiert geimpft wurden. Das PEI hält es nach seiner Analyse in nur 73 der gemeldeten Fälle für wahrscheinlich oder zumindest möglich, dass ein Zusammenhang zwischen Impfung und Tod bestand.

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