Noch ist die Protestbewegung gegen die im Rahmen der indirekten deutschen Verwicklung in den Ukraine-Krieg hervorgerufene flächendeckende Verarmung gar nicht richtig in Gang gekommen. Und doch zwingt sie die Bundesregierung bereits zum vorbeugenden Gegensteuern: Am Sonntag hat die Ampelkoalition ein "drittes Entlastungspaket" vorgestellt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte dabei in Berlin, das Land stehe "vor einer schweren Zeit". Vor Journalisten, von denen viele im Frühjahr noch ein augenblickliches Ende der Öl-, Kohle- und Gasimporte aus Russland gefordert hatten, behauptete der Kanzler, Moskau sei "kein zuverlässiger Energielieferant mehr".
Um die Teuerung aufzufangen, will die Ampel Maßnahmen in einem Gesamtvolumen von über 65 Milliarden Euro umsetzen. Geplant ist demnach unter anderem eine Energiepauschale für Rentner und Studierende, ein vergünstigter Strompreis im Basisverbrauch, ein bundesweites Nahverkehrsticket und eine Erhöhung des Kindergeldes - um 18 Euro. Der Kreis der Wohngeldberechtigten soll auf etwa zwei Millionen Menschen wachsen.
Das sei alles finanzierbar innerhalb "der bisherigen Haushaltsplanungen der Bundesregierung", sagte Finanzminister Christian Lindner (FDP) am Sonntag. Er beendete damit Spekulationen über eine Aussetzung der sogenannten Schuldenbremse. Das Paket verbinde "Solidarität" mit "Leistungsgerechtigkeit und Solidität". Scholz wollte da nicht zurückstehen und ließ durchblicken, dass er sich Proteste auf der Straße verbittet: "Wenn einige damit nicht einverstanden sind und die Formeln von Putin rufen, dann sind es eben einige." Die meisten Menschen wüssten, dass es gut sei, in einem "wirtschaftsstarken Sozialstaat" zu leben. Die Formel der Regierung und der angeschlossenen Presseabteilungen in den nächsten Monaten lautet also tatsächlich: Wer das Leben hier nicht "gut" findet, sei "Formeln von Putin" auf den Leim gegangen.
Das dürfte Millionen von Menschen, von denen Scholz augenscheinlich Dankbarkeit und Stillhalten erwartet, die aber weiterhin nicht wissen, wie sie Rechnungen und Einkäufe bezahlen sollen, nicht beeindrucken. Die Landesarmutskonferenz Niedersachsen rechnete am Sonntag in einer ersten Reaktion vor: Das 9-Euro-Folgeticket sei mit 49 bis 69 Euro "für Arme zu teuer", die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes von 449 auf 500 Euro viel zu niedrig - sie gehe "komplett für das 9-Euro-Folgeticket drauf". Und durchgesetzt habe sich einmal mehr die FDP mit dem Ausschluss von "Superreichen und Übergewinnprofiteuren" von der "solidarischen Finanzierung der Krisenkosten".
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, begrüßte die "Ausweitung des Kreises der Wohngeldberechtigten". Greifen werde das aber erst 2023. "Wirklich entsetzt" zeigte sich Schneider darüber, dass die Regierung im laufenden Jahr keine weiteren Hilfen für Menschen in der Grundsicherung plant: "Die angekündigte Anhebung der Grundsicherung auf knapp 500 Euro ab dem 1. Januar ist allenfalls ein schlechter Witz und wird, wenn überhaupt, gerade die Inflation ausgleichen."
Mit dem eilig übers Wochenende zusammengestellten und ausgelieferten "Entlastungspaket" wird es der Ampel kaum gelingen, die anlaufende Protestbewegung noch abzubiegen. Am Montag bieten sich nach Feierabend gleich zwei Gelegenheiten, mit vielen anderen Menschen unter linken Losungen gegen die Regierung auf die Straße zu gehen: In Leipzig beginnt um 19 Uhr eine Demonstration auf dem Augustusplatz, in Berlin mobilisiert für 18 Uhr ein linkes Bündnis zu einer Kundgebung vor der Bundesgeschäftsstelle der Grünen.