Lettland ist ein Reiseziel für Individualisten. Ein Urlaub im Baltikum bietet Abwechslung zwischen Historie und Moderne, Stadt und Natur und Ost und West. Besonders die Hauptstadt Riga gilt als inspirierend und voll von junger Energie.
Der weiße, feinkörnige Sand kitzelt unter den Füßen, das blaue Meer glitzert in der Abendsonne und die Möwen lassen sich sanft im Wind treiben. Ansonsten: Stille. Nur das leise Schwappen der Wellen ist zu hören. Ab und zu zirpt eine Grille aus dem duftenden Pinienwald, der direkt hinter dem Strand beginnt. Dieser fast surreal schöne Ort, an dem die Natur ihre ursprüngliche Schönheit entfaltet, liegt nicht in Südfrankreich, Spanien oder Portugal. Das kleine Paradies ist im nordöstlichen Zipfel Europas zu finden, in Lettland.
Hier, an der mehr als 500 Kilometer langen Ostseeküste, gibt es weder aufdringliche Strandverkäufer noch monströse Hotelanlagen, die wie dicke, gestrandete Dampfer das Meeresufer dominieren. Stattdessen ist die Landschaft an diesem unterschätzen und doch so sehenswerten Reiseziel an vielen Stellen unberührt, die Luft klar und lange Strandabschnitte fast menschenleer. Doch nicht nur der Küstenpracht wegen lohnt sich ein Besuch des baltischen Staates. Eine ganz besondere Dynamik macht eine Reise zur Entdeckungstour zwischen den Welten. Denn Lettland ist nicht nur von der Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne geprägt, sondern auch von Westen und Osten, vom Streben gen Europa und dem noch immer präsenten russischen Einfluss.
Lettland liegt zwischen Estland, Litauen, Belarus und Russland. Das klingt für einen sonnigen Sommerurlaub zunächst nicht allzu verlockend. Doch trotzdem mausert sich der kleine Staat langsam zum angesagten Ziel für Low-Budget-Reisende und Individualisten, für Camper und Familien, für Städte- und Naturliebhaber, kurz, für jeden, der jenseits der ausgetretenen Pfade ein Stück Europa entdecken möchte.
Fernab von Touristenströmen und Pauschalurlaubern gibt es viel zu erleben: In den hippen Hauptstadt-Cafés bei einem würzigen Chai Latte umgeben von experimenteller lettischer Kunst die Zeit vergessen, Stunde um Stunde in gut sortierten Second-Hand-Läden stöbern, oder in Militärmuseen die Besatzungsgeschichte des ehemals sowjetischen Staates nacherleben. Denn erst seit 25 Jahren ist Lettland, das ein wenig kleiner ist als Bayern und nur rund zwei Millionen Einwohner hat, unabhängig. Davor war es mal von Russland, mal von Deutschland besetzt. Doch innerhalb dieses Vierteljahrhunderts hat sich die eigene lettische Identität wieder gefestigt. Seit 2004 ist der Staat zudem Mitglied der Europäischen Union. Verschiedenste Einflüsse prägen also Land und Leute. Die Hauptstadt Riga sprudelt vor Kreativität und junger Energie. Viele Dörfer im Landesinneren knarzen dagegen unter bäuerlicher Tradition. Kleine Siedlungen mit großen Höfen und imposanten Kirchen liegen dort umgeben von weiten Feldern, dunklen Wäldern sowie Hunderten von Bächen und Seen.
Links und rechts der „Düna", des längsten lettischen Flusses, der sich von Russland kommend durch die Ebenen schlängelt und bei Riga in die Ostsee ergießt, stellt das Land sich vor: Dicke Kühe liegen im Schatten unter Bäumen. Bauern bieten unter Sonnenschirmen Pfifferlinge, Blaubeeren und Honig an.
Für die Menschen hat sich seit der Unabhängigkeit vieles zum Besseren verändert. Langsam schütteln sie das Erbe der sowjetischen Vergangenheit ab. Je nachdem, wo und wie die Letten aufwachsen, werden sie inzwischen mal mehr, mal weniger westlich erzogen. Obwohl rund 170 000 Russen in Lettland leben, wurde 2012 in einem Referendum Russisch als zweite Amtssprache abgelehnt.
So kommt es, dass manche junge Menschen der slawischen Sprache gar nicht mehr mächtig sind. Früher war das unvorstellbar.
Das beobachten selbst die Letten mit Stolz und Staunen, wie ein Barkeeper mit Hipster-Bart und Oberarm-Tattoos in einer Kneipe in Riga erzählt. Seine Kollegin nämlich, eine junge Frau mit feinen Gesichtszügen und einem Schmunzeln auf den Lippen, kann kein Russisch. „Sie arbeitet trotzdem hier, das ist okay", erzählt der Mann in akzentfreiem Englisch. „Von Tag zu Tag lernen hier weniger Menschen Russisch", fügt er hinzu und lässt den letzten Rest des süßen Birnen-Cidres in ein bauchiges Glas tropfen.
So scheinen viele Menschen zu denken, besonders in Riga, in der Europäischen Kulturhauptstadt 2014, die mit so vielen Beinamen getauft wurde. Sie wird Paris des Ostens, Perle des Baltikums, Hauptstadt des Jugendstils oder wahlweise der Inspiration genannt.
Inspirierend ist das urbane Herz Lettlands, in dem rund 700 000 Menschen leben, allemal. Zwischen Cafés, Galerien und Bars ist die Lust der Einwohner an Kultur, Kunst und Formen individuellen Ausdrucks zu spüren. Riga ist eine bunte Stadt, geprägt von multikulturellen Einflüssen unterschiedlicher Epochen. Jahrhunderte alte gotische Kirchen erzählen von lange vergangenen Zeiten. Bars, Bio-Märkte und vegetarische Lokale spiegeln den heutigen Zeitgeist wider.
Manchmal kommt beides zusammen, wie im „Fazenda Bazars". Diese Mischung aus Restaurant, Bäckerei und Markt verbindet traditionelle lettische Küche mit modernen Einflüssen. Seit 2010 gibt es diesen Laden in einem sorgsam restaurierten Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert. Zwischen Mandarinenbäumchen, bemalten Tellern an der Wand und bunt zusammengewürfelten Möbeln experimentieren die Köche mit überwiegend regionalen Produkten. Aus karamellisierten Zwiebeln, zerflossenem Camembert und gebackener Avocado oder dem traditionellen Haferbrei mit Trockenfrüchten oder Speck kreieren sie kleine Kunstwerke.
Die lettische Liebe zum Detail zeigt sich nicht nur in der kulinarischen Vielfalt. Viele Hauswände, Treppenaufgänge und Verkehrsschilder sind mit ironischer, politischer oder einfach nur hübscher Streetart verziert.
In den kleinen Gässchen der historischen Altstadt teilen sich Bernsteinschmuck-Verkäuferinnen und junge Breakdancer das Parkett. An einer Kirche sitzt ein Mann in Schlappen auf einem Verstärker und bläst gedankenverloren in seine Mundharmonika. Und von hoch oben, über dem bunten Treiben grinsen hämisch steinerne Fratzen von den Fassaden der Jugendstil-Häuser.
Doch auch in Riga sind nicht alle Orte mit der Zeit gegangen. Auf dem bekannten Zentralmarkt in der Nähe des Bahnhofs ticken die Uhren noch anders. Hier, wo man an sieben Tage in der Woche Blusen, Plastiktüten oder CDs erstehen kann, wird noch viel Russisch gesprochen. In den fünf großen Hallen und an den hunderten von kleinen Ständen gibt es neben Krimskrams und Kitsch, günstige, frische Lebensmittel aus eigenem Anbau.
In einem der riesigen Hangare, in denen früher Zeppeline geparkt wurden, stapelt sich heute rohes Fleisch. Zwischen Kalbsköpfen, halben Schweinen, und ganzen Hähnchen essen die Besucher in kleinen Imbissen traditionell und günstig zu Mittag: Hering mit Rotkraut in Mayonnaise, Kartoffeln in Mayonnaise, Eier in Mayonnaise. Dazu das erste Bier.
Wem es um die Mittagszeit für Alkohol noch zu früh ist, kauft einen braunen Brot-Zucker-Saft. „Etwas sehr Typisches für Lettland", sagt der junger Verkäufer mit Baseballkappe und Bartstoppeln. Neben ihm bieten ältere Damen selbstgestrickte Wollsocken und eingelegte Gurken an. Wenn die Einwohner vom wuseligen Getümmel eine Pause brauchen, fahren viele nach Jurmala. Der nur wenige Kilometer entfernte Kurort liegt direkt an der Küste.
24 Kilometer lang ist der Strand. Wer will kann dort ganz alleine in der Natur sein, oder sich die Nächte um die Ohren schlagen. Wenn die Sonne dann noch mit den Wolken rangelt, die ersten Sportler ihr Work-Out machen und Wildcamper aus ihren Zelten kriechen, sind die Überbleibsel der vergangenen Nacht noch am Strand unterwegs: Männer mit nur einem Schuh, als Matrosen verkleidete Junggesellen mit schief sitzender Mütze, kichernde Frauen mit verwischtem Lippenstift.
Daugavpils, die zweitgrößten Stadt, nur 35 Kilometer von der Grenze zu Weißrussland entfernt, ist ein herrlich melancholischer Ort. Hier atmet der Geist der Besetzungszeit noch aus den langsam zerfallenden Gebäuden der großen Festung „Dünaburg", die 1820 von russischer Hand erbaut wurde.
Heute tanzen vor den bröckelnden Fassaden weiße Schmetterlinge und neben den Schießscharten wachsen bunte Blumen. Auf rund 150 Hektar erstreckt sich die Festung, die mehr ist, als nur ein gut erhaltenes, kulturhistorisches Denkmal. Hier leben 1200 Menschen. Sie versuchen es sich schön zu machen und haben die zugenagelten Fenster und dunklen Hauseingänge mit bunten Bildern bemalt. Viel erinnert hier zudem an den expressionistischen Maler Mark Rothko, der in Daugavpils geboren wurde und später in die USA emigrierte. Er ist neben der Festung der zweite Stolz der Stadt.
So vereint sich in Daugavpils viel von dem, was Lettland ausmacht: das Bunte und das Graue, Historie und Moderne, Westen und Osten - und die Schönheit der ungezähmten Natur, die sich direkt hinter der Stadt wieder in voller Blüte entfaltet.
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