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Rezension

Familismus

»In familistischen Gesellschaften ist die Familie Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen.« Angesichts der soziologischen Diagnosen von Individualisierung und der Pluralisierung von Lebensstilen erscheint vielen diese Aussage für die BRD heute nicht mehr gültig. Die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gisela Notz (ak 627) zeigt in ihrem Einführungsband zum Familismus, dass die heterosexuelle bürgerliche Kleinfamilie trotz hoher Scheidungsraten und einer Zunahme von Singlehaushalten weiterhin gesellschaftliches Leitbild ist. Dafür zeichnet Notz Konjunkturen des Familismus vom Kaiserreich bis ins 21. Jahrhundert nach. Denn familistische Strukturen lassen sich nicht auf die BRD der 1950er Jahre und die drei K – Kinder, Küche, Kirche – reduzieren. Auch in der DDR gab es einen, allerdings schwächer ausgeprägten Familismus, der sich etwa bei der Verteilung der Haus- und Sorgearbeit zeigte. Praktische Alternativen zur Familie entstanden meist durch Suchbewegungen von Frauen. Ein historischer Rückblick auf Kritik am Familismus versammelt eine Vielfalt »anderer« Lebensweisen von den mittelalterlichen Beginen über Lily Brauns Konzept vom Einküchenhaus zu den Frauenwohngemeinschaften ab den 1970er Jahren. Während gegenwärtig von feministischer Seite meist die Anerkennung »abweichender« Lebensformen und eine Erweiterung der Definition von Familie gefordert wird, plädiert Notz gegen eine solche Inklusionsstrategie und für »Lebensweisen« statt »Familie«. Hannah Schultes