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Sozialübliche Verhaltensweisen

ak - analyse und kritik, 24.5.2016


Ende April stieß der SPD-Entwurf zu einer Reform des Sexualstrafrechts auf breiten Widerstand. Frauenverbände und Politikerinnen aller Fraktionen kritisierten Justizminister Heiko Maas für die geplanten Änderungen der Paragraphen zu Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch. Dabei wollte der Justizminister die rechtlichen Grundlagen sogar verschärfen. Nach dem gegenwärtigen Entwurf der Regierung sollen die Situationen erweitert werden, in denen Widerstand nicht möglich ist, zum Beispiel wegen eines überraschenden Angriffs, und nun auch unter Strafe gestellt werden. Aber weiterhin knüpft der Entwurf daran an, dass Widerstand von Betroffenen erforderlich ist, und regelt die Ausnahmen.
Auch nach dieser Reform stünde das Verhalten von betroffenen Personen und nicht ihr Wille im Zentrum von Strafprozessen. Ein Bündnis von Frauenrechtsorganisationen fordert daher, dass die 2011 von Deutschland zwar unterzeichnete, aber bis heute nicht ratifizierte Istanbul-Konvention des Europarats umgesetzt wird. Artikel 36 der Konvention verlangt, dass alle sexuellen Handlungen, die gegen das Einverständnis der betroffenen Person ausgeführt werden, strafbar sind.
Der Name des Bündnisses »Nein heißt Nein« wäre dann nicht mehr nur feministische Losung, sondern rechtlich verankert. Bis in die CDU hinein gibt es Sympathie dafür, den bisher vorgelegten Gesetzesentwurf der Bundesregierung internationalen Standards anzupassen. Im Zuge der Debatte um die Reform verkündete die Sprecherin von Heiko Maas, dass ein »Nein« kaum nachzuweisen sei. Der Grund für die Skepsis liegt jedoch tiefer. Sie warnte: »Sozialübliche Verhaltensweisen zu Beginn einer Beziehung könnten kriminalisiert werden«. Die Äußerung spielt wohl auf die patriarchale Idee an, dass eine heterosexuelle Frau zu Beginn einer Beziehung »Nein« sagt, aber »Ja« meint, kurz: »sich ziert«. Maas und seiner Sprecherin zufolge steht eine negative Willensbekundung der Frau dann nur im Dienst des sozial Üblichen – für Männer ist es daher unter diesen Umständen gleichermaßen »sozialüblich«, ein »Nein« zu übergehen.
»Nein« sagen und das auch so meinen – dies als Realität anzuerkennen, würde bedeuten, dass die Frau selbst bestimmen will und kann, ob sie Sex haben will und dass sie darüber entscheidet, mit wem, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form dies passiert. Dieses Recht wird Frauen abgesprochen – Frauen, die es sich nehmen, werden sozial geächtet. Den Willen der Betroffenen ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, wäre daher ein wichtiges gesellschaftliches Signal. Sollte diese Wendung eintreten, wird es aber auch danach keine Gerechtigkeit bei sexualisierter Gewalt geben.
Zwar würden sich Verfahren wegen Vergewaltigung nach einer Reform im Sinne der Istanbul-Konvention nicht mehr primär um die Frage drehen, ob Gewalt oder Drohung im Spiel war. Die Beweisschwierigkeit verlagert sich auf die Frage, ob ein »Nein« zum Ausdruck gebracht wurde. In der Regel würde also vor Gericht weiterhin Aussage gegen Aussage stehen, denn Dritte sind meistens nicht anwesend.
Aufgabe der Richter_innen wird es daher weiterhin sein zu beurteilen, ob die oder der Betroffene glaubwürdig ist. Durch das gesamte Verfahren ziehen sich auch heute noch Vorstellungen, wie sich das »Opfer« eines Sexualdelikts idealtypisch vor, während und nach der Tat verhält. Das Problem besteht nicht darin, dass »im Zweifel für den Angeklagten« entschieden wird, sondern darin, dass sich Stereotype von Ursachen, Umständen, Opfer- und Täterverhalten hier regelmäßig zu auffällig vielen Zweifeln an der Version von Betroffenen verdichten. (1) Vergewaltigungsmythen leugnen, verharmlosen oder rechtfertigen sexualisierte Gewalt: Mit Fremden geht man eben nicht mit. Wer Sex verkauft, kann nicht vergewaltigt werden, wer souverän auftritt, kann nicht Opfer geworden sein. Oder eben auch: Eine Frau, die eine heterosexuelle Beziehung aufnimmt, sagt schon mal »Nein«, obwohl sie »Ja« meint.
Entgegen der verbreiteten Vorstellung einer langsamen, aber stetigen Verbesserung hat sich in puncto Männergewalt nicht viel geändert. So ist zum Beispiel das Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Frauen gleichbleibend. 2004 hatten in Deutschland 13 Prozent aller Frauen seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen dieser Gewalt erlebt. Zehn Jahre später waren es einer europäischen Studie zufolge zwölf Prozent. Gegen das Vorhandensein »sozialüblicher Verhaltensweisen« und ihre Apologet_innen helfen Strafrechtsreformen nur bedingt weiter. Die FrauenLesben-Bewegung war auch deshalb radikal, weil sie Solidarität übte und der körperlichen, psychischen und sexualisierten Gewalt an sich den Kampf ansagte. Außerhalb von Einrichtungen der Anti-Gewalt-Arbeit verkümmern diese Ideen seitdem. Ohne eine schlagkräftige feministische Organisierung wird es beim patriarchalen Status Quo bleiben. Gegenwärtig sind es vor allem Antifeminist_innen, die diesen erfolgreich in Frage stellen.
Hannah Schultes
Anmerkung: 1) Der Anteil sexualisierter Gewalt, der nicht von Männern ausgeübt wird, ist vergleichsweise gering. Von Tätern zu sprechen macht diese Tendenz sichtbar.