1 Abo und 0 Abonnenten
Interview

Nur ein Bruchteil dessen, was passiert

Sabine Seyb über den Anstieg von rassistischen Gewalttaten in Berlin


Interview: Hannah Schultes


Im Jahr 2015 dokumentierte die Berliner Opferberatungsstelle ReachOut so viele rechte, rassistische und antisemitischen Gewalttaten wie nie zuvor. Die kürzlich veröffentlichten Angriffszahlen zeigen für 2016 einen weiteren Anstieg um 20 Prozent. ak sprach mit der ReachOut-Mitarbeiterin Sabine Seyb über die Hintergründe und aktuelle Entwicklungen im staatlichen Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt.


Wie lässt sich der weitere Anstieg der Angriffszahlen erklären?

Sabine Seyb: In Neukölln hängt das zum Teil mit gezielten Angriffen auf Linke zusammen. Das mit Abstand häufigste Tatmotiv in Berlin war aber auch 2016 Rassismus. Jede Asylrechtsverschärfung führt unserer Erfahrung nach dazu, dass die Gewalt auf der Straße zunimmt. 2015 war das offensichtlich: Im ersten Halbjahr war die Rede von einer Willkommenskultur, die auch von den politisch Verantwortlichen begrüßt wurde, und im Unterschied zu Sachsen gab es in Berlin zunächst keinen Anstieg an rechten Angriffen. Dann wurde im August die sogenannte Flüchtlingskrise konstruiert, und im zweiten Halbjahr von 2015 wurde klar: Die Zahl der Angriffe ist enorm gestiegen. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen verbalen Äußerungen von Politikern, strukturellen Bedingungen und der Gewalt auf der Straße. 2015 haben wir insgesamt 320 Angriffe ausgewertet. Diese Zahl hat uns schon entsetzt. 2016 waren es dann noch mal 60 mehr. Die zweitgrößte Betroffenengruppe sind Opfer homo- und transphober Gewalt. Auch hier ist im Vergleich zu 2015 die Gewalt gestiegen. Viele Taten fanden in den Bezirken Kreuzberg, Tiergarten, Neukölln und Mitte statt. Die Leute werden dort angegriffen, wo sie feiern gehen, wo sie ihre sexuelle Orientierung nicht verstecken, weil sie sich eigentlich sicher fühlen. Eine Erklärung für den Anstieg an LGBT-feindlichen Angriffen könnte sein, dass die Ermittlungsbehörden genauer hinschauen und dass mehr angezeigt wird.


Die Anzahl der Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte war 2016 fast ebenso hoch wie 2015, als es auf der Straße noch eine starke rechte Mobilisierung gegen Geflüchtete gab. Das hat nun abgenommen, die Gewalt ist aber geblieben. Wie hat sich im Vergleich dazu die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema entwickelt?

Da ist es eher still geworden. Es stimmt, die Aufmärsche haben abgenommen, deswegen verzeichnen wir weniger Attacken auf Linke und Journalisten. 2015 haben wir zum ersten Mal die Anzahl von Angriffen am Tatort »Unterkünfte« und »Umfeld von Unterkünften« eigens ausgewiesen. An bestimmten Unterkünften wie der Unterkunft am Glambecker Ring in Marzahn findet weiterhin permanent Gewalt statt. Da sind nach wie vor organisierte Neonazis und rassistische Anwohner aktiv. Da werden Leute bedroht, da fliegen Steine und Flaschen, und die Geflüchteten trauen sich in solchen Situationen kaum noch alleine aus den Unterkünften raus. Die Öffentlichkeit schaut nicht mehr so genau hin. Aber gleichzeitig gibt es dort Menschen, die Geflüchtete unterstützen und sich gegen rechte Gewalt positionieren. Von ihnen bekommen wir auch Informationen, wenn Bewohner der Unterkünfte Opfer werden.


Ihr zählt für 2016 380 Angriffe, die Zahl des Landeskriminalamts zur »politisch motivierten Kriminalität - rechts« liegt bei 158. Woher kommt dieser Unterschied?

Es gibt dafür unterschiedliche Gründe. Wir dokumentieren auch Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht wurde, zum Beispiel wenn Betroffene sich nur beraten lassen, aber keine Anzeige stellen wollen. Manchmal ordnen aber auch die Ermittlungsbehörden angezeigte Angriffe nicht als rassistisch motiviert ein, wir aber schon. In seltenen Fällen korrigieren sie aufgrund unserer Chronikmeldungen ihre Einordnungen. Schon vor der Selbstenttarnung des NSU war für uns als Opferberatungsstelle die Perspektive der Betroffenen ausschlaggebend. Nach dem NSU gilt das natürlich umso mehr. Wenn die Schilderungen der Betroffenen nahelegen, dass die Tat rassistisch motiviert war, dann nehmen wir das ernst. Der Tathergang kann beispielsweise viel über die Motivation aussagen: wenn Gewalt unvermittelt ausgeübt wird, die betroffene Person und der Täter sich nicht kennen, vielleicht noch nicht mal Worte fallen. Wenn eine nicht-weiße Person an einer Haltestelle aus dem Nichts heraus von einer weißen Person angegriffen wird, ist für uns relativ klar: Es kann sich nur um Rassismus handeln. Unter den Gewalttaten, die wir verzeichnen, finden sich außerdem auch massive Bedrohungen, die von den Folgen her genauso heftig sein können wie ein körperlicher Angriff. Eine Bedrohung ist aber aus polizeilicher und juristischer Sicht kein Gewaltdelikt.


Auch bei rassistisch motivierter Gewalt gibt es ein Dunkelfeld. Welche Bedingungen verhindern, dass Angriffe in eurer Chronik auftauchen?

Es kommt sehr oft vor, dass Menschen zu uns wegen einem Angriff kommen und sich herausstellt, dass es nicht der erste war. Sie kommen häufig erst dann, wenn sie das Gefühl haben: Das kann so nicht weitergehen. Wir glauben deshalb, dass wir nur von einem Bruchteil dessen erfahren, was tatsächlich passiert. Von Gewalt gegen Geflüchtete erfahren wir nur in Einzelfällen. Da hören wir immer wieder, dass die Betroffenen befürchten, dass sich eine Anzeige gegen die Täter negativ auf ihr Asylverfahren auswirken könnte. Oder sie haben schlicht keine Ressourcen, sich mit dem rassistischen Angriff auseinanderzusetzen, weil sie schon so viele traumatische Erfahrungen gemacht haben oder gerade Probleme mit dem Aufenthalt oder der Bürokratie haben. Deshalb machen wir auch Infoveranstaltungen in den Unterkünften, bei denen wir erklären, welchen Sinn es hat, die Infos weiterzugeben und welche Unterstützungen wir bieten können. Hellhörig werden wir, wenn Unterkünfte nicht mit uns zusammenarbeiten wollen, nach dem Motto: »Bei uns ist alles in Ordnung, wir sind bestens versorgt mit Informationen«. In solchen Unterkünften sind die Lebensbedingungen oft sehr schlecht.


Antirassistische Organisationen fordern schon lange ein Bleiberecht für Opfer rechter Gewalt. Wie ist die Situation für Betroffene in Berlin?

Im Moment gibt es das in Berlin nicht. Ob Opfer rassistischer Gewalt abgeschoben werden, hängt vom Wohlwollen der Ausländerbehörde ab. Die Berliner Innenbehörde verweist seit Jahren darauf, dass die Möglichkeiten in Berlin ausreichend seien und meint damit die Härtefallkommission. Es ist aber etwas ganz anderes, einen Anspruch auf einen sicheren Aufenthalt zu haben oder ihn abhängig vom guten Willen einer Kommission und ohne Rechtsanspruch bekommen zu können. Das Signal an die Täter muss sein: Die Strategie, Leute in Angst und Schrecken zu versetzen und sie zu vertreiben, wird nicht aufgehen. Ende Dezember letzten Jahres hat der Brandenburger Landtag deshalb beschlossen, Opfern rechter Gewalt ein Bleiberecht zu gewähren. Der Berliner Innensenator Andreas Geisel hat sich Anfang des Jahres für eine Regelung nach dem Brandenburger Vorbild ausgesprochen. Aber eine Regelung in Berlin muss weiter gehen als das und ja auch noch durchgesetzt werden. Denn seitdem der Innensenator in der Zeitung zitiert wurde, ist von einer Bleiberechtsregelung nichts mehr zu hören.


Was fordert ReachOut?

Wenn es Hinweise auf eine rassistisch motivierte Tat gibt, müssen die Betroffenen aufenthaltsrechtlich geschützt werden - und zwar alle, die keinen gesicherten Aufenthalt haben. Auch Menschen, die seit vielen Jahren mit Kettenduldungen hier leben, müssen Anspruch haben. Im Brandenburger Erlass heißt es, die Ausländerbehörden sollen ihren »Ermessensspielraum« nutzen. Aber Misstrauen gegenüber den Betroffenen zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Erlass. Da wird unterstellt, Menschen könnten einen Angriff leichtfertig vortäuschen.


Im Brandenburger Erlass heißt es, Opfer dürften selbst keine Straftaten begangen haben und das »Verhalten darf für die Gewalttat nicht mitursächlich gewesen sein«.

Dass die Betroffenen keine Straftaten begangen haben dürfen, um ein verlängertes Aufenthaltsrecht zu erhalten, ist rassistisch. Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Da reicht ja schon mehrmaliges Fahren ohne Fahrschein. Außerdem können bestimmte Straftaten wie die Verletzung der Residenzpflicht ohnehin nur von Menschen ohne gesicherten Aufenthalt begangen werden - dass das Straftaten sind, ist an sich schon rassistisch. Absurd ist die Unterstellung, dass ihr Verhalten mitursächlich gewesen sein könnte. Eine Bleiberechtsregelung setzt schließlich voraus, dass die Straftat in einem Ermittlungsverfahren aufgeklärt wurde. Viele Betroffene rassistischer Gewalt machen sich sowieso Vorwürfe und fragen sich, ob sie sich falsch verhalten haben. Das erschwert die psychologische Verarbeitung von Angriffen. Deshalb schreiben wir in jedem Flyer, dass die Betroffenen nicht schuld sind, ganz gleich, wie sie sich während eines Angriffs verhalten haben - und dann steht sowas in einem Erlass.


Sabine Seyb

ist Mitbegründerin und Mitarbeiterin von ReachOut. Zu ihren Tätigkeiten gehört die Öffentlichkeitsarbeit, die Auswertung der Angriffszahlen und die Organisation der Ausstellung Berliner Tatorte - Dokumente rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.


Erschienen in ak - analyse und kritik Nr. 626 / 04/2017


Foto: J. Möller / http://joerg-moeller-fotografie.de/

Ausstellung "Tatorte": https://www.reachoutberlin.de/de/content/ausstellung

ReachOut: https://www.reachoutberlin.de/de