Volkmar von Pechstaedt vertritt als Anwalt seit 20 Jahren Stalkingopfer vor Gericht. Das Stalking nimmt immer absurdere Formen an, aber in der Justiz ändert sich wenig.
Der Rechtsanwalt Volkmar von Pechstaedt ist ein Experte für Stalking. Seit 21 Jahren vertritt er Stalkingopfer. Urteile, die ihnen gerecht werden, erlebt er nur selten. Warum verändert sich bei dem Thema nichts?
ZEIT Campus: Herr von Pechstaedt, Sie verhandeln vor Gericht ausschließlich Stalkingfälle. Warum ist es so belastend, von jemandem gestalkt zu werden?
Volkmar von Pechstaedt: Stalker neigen dazu, die Person des Opfers auszuforschen und jeden möglichen Angriffspunkt zu finden. Stellen Sie sich vor: Sie bekommen ständig Anrufe oder WhatsApp-Nachrichten. Nicht nur mit ewig wiederholten Liebesbotschaften, auch mit Beleidigungen und Drohungen: Du bist nichts wert, dich werde ich fertigmachen, du wirst deinen Job verlieren. Jemand lauert Ihnen auf, fährt Ihnen mit dem Auto hinterher, bedrängt Sie Stoßstange an Stoßstange. Das alles zusammen ist Psychoterror. Und ich erlebe Fälle, in denen das länger als ein Jahrzehnt dauert.
ZEIT Campus: Ist das die Regel, dass Ihre Mandanten und Mandantinnen so lange unter ihren Stalkern leiden?
von Pechstaedt: Meistens ist das Stalking nach etwa zwei bis drei Jahren vorbei. Fälle, die sich nach nur wenigen Monaten abschließen lassen, sind ziemlich selten. Ich versuche alles nur Mögliche, um meinen Mandantinnen und Mandanten zu helfen. Aber es funktioniert sehr oft nicht.
ZEIT Campus: Woran liegt das?
von Pechstaedt: Es beginnt damit, dass die Kommunikation der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden katastrophal ist. Manchmal erfahren meine Mandanten und ich nur durch eine Begegnung mit dem Täter, dass dieser aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wurde. Außerdem liegen die Fälle oft jahrelang bei der Staatsanwaltschaft und den Gerichten herum. Kurz bevor sie verjähren, kommt dann eine Nachricht: Bestenfalls wurde Anklage erhoben, schlimmstenfalls das Verfahren eingestellt. Ein anderer Grund ist, dass es keine Gesetze gibt, die helfen, gegen Stalker vorzugehen, bei denen eine Schuldunfähigkeit festgestellt wurde. Dieser Stalkertypus hat quasi Narrenfreiheit.
ZEIT Campus: Das klingt frustrierend.
von Pechstaedt: Ja, das ist es auch. Ich habe zum Beispiel noch nie erlebt, dass das Strafmaß ausgeschöpft wurde. Es wären Freiheitsstrafen bis zu drei oder fünf Jahren möglich. Stattdessen werden selbst bei gravierenden Fällen Geldstrafen verhängt, die nicht über ein paar Hundert Euro hinausgehen. Viele Opfer haben hingegen Tausende Euro ausgegeben: für ihren Anwalt, für Gerichtskosten, Alarmanlagen und Überwachungskameras, für einen Wechsel des Wohnorts, Schadensbeseitigung am Auto. Da kommen schnell 5.000 bis 10.000 Euro zusammen. Und der Täter kriegt eine Geldstrafe von 300 Euro. Das steht doch in keinerlei Verhältnis zueinander. Im Prinzip kann man in Deutschland relativ gefahrlos stalken. Daran hat sich in den letzten 25 Jahren wenig geändert.
ZEIT Campus: Gibt es einen typischen Stalker?
von Pechstaedt: Das kann man so nicht sagen. Das Täterfeld ist divers, die Lebenshintergründe und Motive sind überaus unterschiedlich. Aber nach meiner Erfahrung sind mehr als 80 Prozent der Täter männlich. Wenn Frauen stalken, tun sie das anders als Männer: weniger physisch aggressiv, subtiler. Sie holen die Post aus dem Briefkasten oder streuen falsche Gerüchte. Es muss nicht immer eine enge Beziehung bestanden haben zwischen Stalker und Opfer. Es können auch Kommilitonen oder Bekannte sein, oder sogar Leute, die man nur einmal gesehen hat oder seit Jahren nicht mehr. Ich hatte einen Mandanten, der wurde plötzlich von einer ehemaligen Kollegin gestalkt, mit der er sich früher ein- oder zweimal in einer Kaffeeküche des Unternehmens unterhalten hatte, aber die er seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte.
ZEIT Campus: Wie hat sich Stalking in den vergangenen Jahren verändert?
von Pechstaedt: Stalker nutzen heute fast alle Messengerdienste und Internetportale, um ihre Opfer zu belästigen. Aber es gibt trotzdem ganz selten nur reines Cyberstalking. Es kann also sein, dass jemand Hassbotschaften im Internet verschickt, aber - ganz herkömmlich - noch vor Ihrer Wohnung auftaucht.
ZEIT Campus: Sie beschäftigen sich seit fast 25 Jahren mit dem Thema Stalking und solchen Fällen. Wie sind Sie damals darauf gekommen?
von Pechstaedt: Ende der Neunzigerjahre habe ich eine Dissertation über Stalking geschrieben. Damals wussten die Leute in Deutschland noch nicht einmal, was das ist, da konnte ich fragen, wen ich wollte. 1997 war im Vereinigten Königreich als erstem Land in Europa ein Gesetz gegen Stalking in Kraft getreten. So wurde ich auf das Thema aufmerksam. Ich kam in meiner Arbeit zu dem Schluss, dass wir eine Gesetzesreform brauchen, weil die deutschen Straftatbestände Stalkinghandlungsweisen nicht ausreichend abdeckten.
ZEIT Campus: War das damals eine kontroverse Position?
von Pechstaedt: Durchaus. Sogar mein Doktorvater stand dem Ganzen sehr ablehnend gegenüber. Wenn es so ein Gesetz gäbe, dann stünden ja alle mit einem Fuß im Gefängnis, sagte er. Das seien doch Gefühle, die da zum Ausdruck kommen, und die sollte man nicht mit strafrechtlichen Sanktionen belegen. Und er war keineswegs allein mit dieser Auffassung.
ZEIT Campus: Es kam dann anders. Seit 2007 gibt es in Deutschland einen Paragrafen, der Stalking strafbar macht. 2017 ist das Gesetz nachgebessert worden, nun ist eine erneute Novellierung geplant. Und trotzdem sagen Sie, dass sich die Situation von Opfern nicht verbessert hat. Warum?
von Pechstaedt: Heute macht mir nicht ein fehlender Straftatbestand die Arbeit schwer, sondern die nachlässige Ausführung der Justiz. Viele der Probleme, die ich geschildert habe, ließen sich dadurch lösen, dass man mehr qualifiziertes Personal einsetzt, denn die Beamten und Richter sind an allen Ecken und Enden überlastet. Darunter leiden letztendlich die Opfer, weil niemand ausreichend Zeit für ihren Fall hat und alles viel zu lange dauert. Man sollte aber auch die Prävention verbessern.
ZEIT Campus: Was meinen Sie damit?
von Pechstaedt: Dass alle Stalker eingesperrt werden, ist nicht mein Ziel: Meine primäre Aufgabe als Anwalt ist der Schutz der Opfer, dass sie zur Ruhe kommen. Dass die Täter in Haft kommen, ist manchmal nur eine Notwendigkeit, um sie von weiteren Handlungen abzuhalten. Aber das macht mir keine Freude. Eigentlich müsste man viel früher ansetzen, nämlich bevor der Fall eskaliert.
ZEIT Campus: Wie könnte gute Prävention aussehen?
von Pechstaedt: Eine Maßnahme ist zum Beispiel die Gefährderansprache der Polizei. Dabei fahren die Polizeibeamten zu dem Täter nach Hause und sprechen mit ihm: "Guten Tag, wir sind von der Polizei, sind Sie der Stalker? Wir sind hier, um mit Ihnen eine Gefährderansprache durchzuführen. Sie dürfen dieser Frau nicht nachstellen. Wir machen einen Vermerk. Auf Wiedersehen." So sehen in der Regel die Gefährderansprachen aus. Würden Sie da als Stalker aufhören? Der Stalker macht doch die Tür zu und lacht sich kaputt.
ZEIT Campus: Was wären weitere sinnvolle Maßnahmen?
von Pechstaedt: Es müsste mehr therapeutische Angebote für solche Stalker geben, die begriffen haben, dass sie ein Problem haben. Aber versuchen Sie mal, einen Termin in einer psychologischen Praxis zu kriegen. Das kann Monate dauern. In dieser Zeit müssen die Opfer leiden.
ZEIT Campus: Werden Sie selbst auch Ziel von Bedrohungen?
von Pechstaedt: Ja, ich bekomme zahlreiche E-Mails mit Morddrohungen und Beschimpfungen in widerlichster Form: "Hier ist das SS-Erschießungskommando, mach dich bereit, wir stellen dich an die Wand." Ich habe mal ein blutbeschmiertes Messer in meinem Briefkasten gefunden. Oder jemand, in diesem Fall eine Stalkerin, hat die Hauswand gegenüber von meiner Kanzlei beschmiert. Wenn gerichtliche Anordnungen gegen den Täter existieren oder ein Ermittlungsverfahren läuft und eine Bestrafung im Raume steht, dann weiß er in der Regel ganz genau, wie weit er gehen kann. Dann terrorisiert er stattdessen den Anwalt.
ZEIT Campus: Opferverbände beklagen, dass Betroffenen oft nicht geglaubt werde, wenn sie bei der Polizei Anzeige erstatten. Erleben Sie das auch?
von Pechstaedt: Das kommt mitunter vor. Aber das geschieht wohl selten aus bösem Willen. Wenn man einen Stalkingfall beschreibt, klingt er häufig genug tatsächlich erst mal absurd. Da kommt jemand und sagt: "Ein Stalker versucht, mich mit Schallwellen fertigzumachen." Wie klingt das zunächst?
ZEIT Campus: Als ob jemand unter einer wahnhaften Störung leidet?
von Pechstaedt:
Genau. Aber im Bereich von Stalking gibt es
nichts, was nicht vorfallen kann. Es gibt in der Tat Fälle, bei denen
jemand
seinen Nachbarn ständig mit ganz hohen Tönen beschallt, um ihn
fertigzumachen. Oder stellen Sie sich vor, der Stalker in der Wohnung
über Ihnen lässt
fortwährend Murmeln über den Holzfußboden rollen. Das kann einem
wirklich die
letzten Nerven rauben! Ich könnte Stunden oder Tage damit verbringen,
Ihnen aufzählen,
was ich alles schon erlebt habe.
ZEIT Campus: Aber die Aufgabe von Polizisten und Polizistinnen wäre doch, herauszufinden, ob an der Geschichte etwas dran ist.
von Pechstaedt: Absolut. Durch gezieltes Nachfragen würde man das in sehr vielen Fällen herausfinden. Ist das, was das Opfer beschreibt, technisch und praktisch möglich? Hat der mutmaßliche Täter ein Motiv? Kann da Vorsatz im Spiel sein? Aber es ist keineswegs so, dass bei der Polizei alle zum Thema Stalking geschult sind. Für einen sensiblen Umgang damit wäre das aber nötig.
ZEIT Campus: Hat sich der Umgang mit dem Thema in den letzten Jahren verändert?
von Pechstaedt: Einerseits ja. Das Thema ist präsenter geworden, heute weiß eigentlich jeder, was Stalking ist. Aber vieles hat sich eben auch nicht verändert: Es ist nach wie vor sehr schwer, Augenzeugen dazu zu bewegen, auszusagen, weil sie nicht hineingezogen werden wollen. Und ich erlebe auch nicht, dass junge Richterinnen und Richter sensibilisierter für das Thema sind als ältere. Im Gegenteil. Ich habe sogar den Eindruck, dass ältere Richter mit den Gedanken mehr beim Fall und weniger bei sich sind. Ich erlebe leider immer wieder junge Richter, die offensichtlich noch sehr mit ihrer Karriere beschäftigt sind und einen Fall gerne so schnell wie möglich über ihren Tisch bringen wollen.
ZEIT Campus: Was bedeutet das für die Opfer?
von Pechstaedt: Gerade jungen Opfern fällt es schwer, wenn ein Polizeibeamter oder Richter unsensibel mit ihnen umgeht. Viele verlieren dann den Mut und verschließen sich. Es kommt vor, dass sie dann nicht mehr zur Polizei gehen, wenn der Stalker sie das nächste Mal belästigt.
ZEIT Campus: Wie sind junge Menschen von Stalking betroffen?
von Pechstaedt: Im Grunde genauso wie alle anderen. Es ist eher der Umgang damit, der sich unterscheidet. Ich bekomme viele Anfragen von jungen Menschen Anfang 20. Sie scheuen oft rechtliche Schritte wegen der Kosten. Ein Gerichtsverfahren kostet Geld und man weiß nicht, ob man das am Ende vom Stalker wiederbekommt. Hinzu kommt, dass viele jüngeren Betroffenen Schuldgefühle haben.
ZEIT Campus: Warum?
von Pechstaedt: Sie glauben, sie hätten vielleicht missverständliche Signale gegeben. Manchmal redet ihnen auch der Bekanntenkreis solche Schuldgefühle ein. Aber selbst, wenn es nicht von außen kommt – die meisten fragen sich: Was habe ich falsch gemacht, dass es so weit kommen konnte?
ZEIT Campus: Und die Täter? Leiden die auch, auf eine Art?
von Pechstaedt: Ich vertrete prinzipiell keine Täter. Aber selbst aus meiner wirklich parteiischen Sicht würde ich sagen: Ja, selbst ein großer Teil der Täter leidet. Sie leiden darunter, dass sie in eine Sackgasse geraten sind und einfach nicht aufhören können. Die meisten können ihr Leid sehr gut verbergen. Die sitzen mit verschränkten Armen vor dem Richter und lassen sich durch keinerlei Argumente überzeugen. Doch ich denke, auch die haben schlaflose Nächte. Und man sollte ihnen unbedingt Hilfe anbieten. Natürlich müssen dann auch die Einsicht und der Wille vorhanden sein, diese Unterstützung anzunehmen.