Hanna Silbermayr

Freie Auslandsjournalistin, Caracas

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Artikel

Radio FM4 - Online (15)

Maria war zur falschen Zeit am falschen Ort. Genauso wie Uriel, Carlos, José und viele mehr. Oder sie haben einfach nur Gebrauch von einem Recht gemacht, das in einem demokratischen Staat eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten sollte: Zu demonstrieren.

Seit Anfang Dezember hat Mexiko einen neuen Präsidenten. Enrique Peña Nieto war im Juli mit 38,21% aller Stimmen zum neuen Staatsoberhaupt gewählt worden. Am 1. Dezember wurde er angelobt und hat die Amtsgeschäfte übernommen. Doch die Antrittszeremonie ging nicht einfach still vonstatten, sondern wurde von lautstarkem Protest auf den Straßen Mexikos begleitet. Schon vor den Wahlen im Sommer hatten Tausende von Menschen gegen den Amtsanwärter demonstriert. Es war dies der Moment, in dem sich eine der größten Protestbewegungen, die Mexiko seit langem gesehen hatte, unter dem Namen #YoSoy132 formierte.

Peña Nieto werden von den KritikerInnen Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen und sein Wahlerfolg mit der engen Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Medien erklärt. Hinzu kommt, dass er jener Partei angehört, die das Land ab dem Ende der mexikanischen Revolution bis zu ihrer Abwahl im Jahr 2000 sieben Jahrzehnte lang autoritär regiert hatte: Dem Partido Revolucionario Institutional, kurz PRI.


Polizeiliche Willkür

Am 1. Dezember gingen die Menschen erneut auf die Straße: Um ihrer Meinung über die Machenschaften im Staat Ausdruck zu verleihen, wollten sie friedlich demonstrieren. "México no tiene presidente", liest man auf unzähligen Plakaten: "Mexiko hat keinen Präsident." Die Stadt Mexiko hat ein großes Aufgebot an Polizei rund um den Präsidentenpalast versammelt. Zu Beginn ist die Lage ruhig, doch plötzlich beginnen einzelne DemonstrantInnen die Sicherheitskräfte mit Steinen zu bewerfen und Schaufenster von Banken und Geschäften zu zertrümmern. Später erklärt ein Polizist der Tageszeitung La Jornada, dass von Seiten der Autoritäten bewusst Polizei in Zivil eingesetzt wurde, um die Situation zum Eskalieren zu bringen.

Und die Situation eskalierte.

Die Polizei jagte die DemonstrantInnen quer durch die Stadt. Sie setzte Tränengas ein und schoss mit Gummigeschoßen in die Menge. Eines davon traf den Studenten José am Kopf: Er verlor sein rechtes Auge.

Die Sicherheitskräfte beginnen, wahllos DemonstrantInnen einzukreisen und willkürlich festzunehmen. Uriel liegt schon verletzt am Boden, als sich eine Meute von Polizisten über ihn wirft. Sie schlagen ihn, treten ihn. Die Menschen rundherum sind machtlos. Man hört Geschrei. "¡Déjenlo, déjenlo! - Lasst ihn, lasst ihn!" Viele halten einfach nur hilflos ihre Kameras auf das Geschehen, um die Menschenrechtsverletzungen der Autoritäten zumindest auf Video festzuhalten. Uriel schafft es noch, einer filmenden Demonstrantin die Worte "¡Hasta la victoria siempre! - Bis zum Sieg!" zu sagen. Sein Name und die Telefonnummer seiner Mutter sind die letzten Worte, die Uriel von sich gibt, bevor er ohnmächtig wird und ihn die Polizei wegzerrt.

In einer engen Straße sind ein Dutzend DemonstrantInnen von Polizeikräften umringt. An den Eingängen zur Gasse hat sich eine weitere Reihe an Sicherheitskräften positioniert, um andere Personen davon abzuhalten, zu den Festgenommenen vorzudringen. Die Fotografin Maria steht im Kreis.

Von außen versuchen unzählige Menschen zu helfen. "¡Sueltenlos, sueltenlos! - Lasst sie frei, lasst sie frei!", schreien sie. Carlos redet auf die Polizeikette vor sich ein. Plötzlich kommt ein Polizist von hinten, umschlingt seinen Körper und zerrt ihn in den Kreis der Festgenommenen.

Ein Gefangener mehr.


Die verletzten Menschenrechte

Das Resultat dieses 1. Dezembers sind nicht nur unzählige, teils schwer verletzte Personen. Am Ende des Tages saßen beinahe hundert DemonstrantInnen in einem der Gefängnisse von Mexiko Stadt. Im Laufe der Woche wurden manche der Inhaftierten freigelassen. 69 Personen aber mussten bleiben, unter ihnen Maria und Carlos.

Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten die öffentliche Sicherheit gefährdet, randaliert und Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet. Fünf bis dreißig Jahre Haft stehen in Mexiko auf solche Delikte. Die Videos aber, die nach dem Tag der Angelobung Peña Nietos auf Youtube hochgeladen wurden, zeigen ein anderes Bild. Darin sind Menschen zu sehen, die friedlich demonstrieren, sich für andere einsetzen oder teilweise nicht einmal in die Proteste involviert, sondern zum Einkaufen in der Stadt sind. Die grobe Gewalt ging zumeist - entgegen den Berichten der großen Fernsehstationen des Landes - von den staatlichen Autoritäten aus.

Die Menschenrechtsverletzungen begannen mit den Gewaltausbrüchen der mexikanischen Polizei, mit der Verunmöglichung eines friedlichen Protests und endeten innerhalb der Gefängnismauern. Den Inhaftierten wurde keine Möglichkeit gegeben, sich mit ihren Familien in Verbindung zu setzen. Diese erfuhren über Freunde, die während den Verhaftungen anwesend waren, über das Schicksal ihrer Angehörigen. Ihnen wurde der Kontakt nach außen verwehrt und - wie fast alle nach ihrer Freilassung berichten - psychische Gewalt angewandt, indem man sie im Unklaren über ihre rechtliche Situation ließ.

Auf Twitter und Facebook wurde die Freilassung der willkürlich inhaftierten DemonstrantInnen gefordert. Mexikanische Intellektuelle und KünstlerInnen stellten ein Video online, in dem sie erklärten, dass diese Vorgehensweise des Staates gegen KritikerInnen nicht den Gesetzen der Verfassung entsprächen. "Si uno de nosotros está preso, todos lo estamos - wenn einer von uns gefangen ist, sind wir es alle", erklären sie. Die Aussage wird zum neuen Schlagwort des mexikanischen Protests.

Am vergangenen Sonntag, eine Woche nach der Angelobung Peña Nietos, kamen Maria und Carlos frei. Mit ihnen 53 weitere DemonstrantInnen, denen keine Delikte nachgewiesen werden konnten. 14 Personen sitzen noch immer im Gefängnis - unschuldig, wie sich Menschenrechts-aktivistInnen und deren MitstreiterInnen einig sind. Das würden die Videos eindeutig beweisen.

Die Rückkehr der jahrzehntelang hegemonial regierenden PRI begann mit staatlichen Repressionen. Und das ist Mexikos größtes Problem.


Die unvollendete Transition

Während seiner Antrittsrede sagte der neue Präsident Peña Nieto, dass er sich an die Gesetze der Verfassung halten würde. Sollte er das nicht machen, solle ihn die Nation daran erinnern. Schon zuvor hatte er von Veränderungen gesprochen, die sich innerhalb seiner Partei vollzogen hatten.

Und von Demokratie.

Schon in den 1970er Jahren ging die regierende Elite der PRI hart gegen KritikerInnen vor. Bis heute gelten unzählige von ihnen als verschwunden. Andere wurden ermordet. Das "Massaker von Tlatelolco" kurz vor den Olympischen Spielen im Jahr 1968 hat sich in die Köpfe der Menschen eingebrannt. Mario Vargas Llosa, peruanischer Schriftsteller und Nobelpreisträger, nannte Mexiko einmal "die perfekte Diktatur". Nach außen hin gab sich der Staat demokratisch, in Wahrheit regierte aber die Korruption. Präsidenten bestimmten per Fingerzeig ihre Nachfolger und kam einer von ihnen vom Kurs ab, so wie der Präsidentschaftskandidat für die Wahlen im Jahr 1994, Luis Donaldo Colossio, welcher der Korruption ein Ende bereiten wollte, so wurde er einfach aus dem Weg geschafft.

Anders aber, als in den meisten lateinamerikanischen Staaten, wo diktatorische Regime ein abruptes Ende fanden und wo sich eine mehr oder weniger schnelle Transition hin zur Demokratie vollzog, dauert dieser Prozess in Mexiko bis heute an. Die Fassade der Demokratie bot der regierenden Elite der PRI einen Spielraum, in dem sie Veränderungen hinauszögern konnte. Die wahre Demokratisierung des Landes begann in den 1970ern, als der Mythos der Revolution zu bröckeln anfing und sich das Volk gegen seine Herrscher aufzulehnen begann. Um an der Macht zu bleiben, wurden den KritikerInnen teilweise Zugeständnisse gemacht, etwa eine oberflächliche Wahlreform. Diese führte im Jahr 2000 zur Abwahl des PRI-Regimes, als Vicente Fox vom Partido Acción Nacional (PAN) Präsident wurde. Er war der Hoffnungsträger der Nation und sollte die Demokratisierung Mexikos vorantreiben.

Doch genau das Gegenteil geschah. Zwar war die PRI aus dem Präsidentenpalast verbannt worden, doch verfügte die Partei nach wie vor über eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus, was Veränderungen praktisch verunmöglichte. Man fand keinen Konsens über die so dringend notwendigen Reformen. Der Drogenkrieg des Nachfolgers von Fox, Felipe Calderón, half der Demokratisierung noch weniger. Vielmehr bedeutete er einen Rückschritt: Mit der Wiederwahl der PRI im Juli dieses Jahres, hielten die autoritären Praktiken in die politischen Sphären wieder Einzug.

Das zeigen die Repressionen vom 1. Dezember: Während der neue Präsident in den prunkvollen Hallen des Palastes von Demokratie und Veränderungen spricht, werden auf den Straßen Mexikos KritikerInnen verprügelt, verletzt und willkürlich verhaftet. Vierzehn von ihnen sitzen noch immer in Untersuchungshaft und ihnen drohen bis zu dreißig Jahre Haft. Weil sie ein Recht in Anspruch genommen haben, das in einem demokratischen Land selbstverständlich sein sollte: Zu demonstrieren.

Mexiko ist keine Demokratie.

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