Hanna Silbermayr

Freie Auslandsjournalistin, Caracas

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Radio FM4 - Online (6)

„Das nennt man auch: regieren, indem man dem Volk gehorcht." Evo Morales, bolivianischer Präsident, scheint Mühe zu haben, diese Worte über die Lippen zu bringen. Doch dann ist es draußen, der Moment von unzähligen Fernsehkameras eingefangen.

Es ist ein Zugeständnis an sein Volk, das er an diesem frühlingshaften Nachmittag macht. Diesem war ein monatelanges Tauziehen um eine Region 650 Kilometer östlich von La Paz vorausgegangen: das Territorio Indígena y Parque Natural Isiboro-Secure (TIPNIS). Das Gebiet, das sich auf einer Fläche so groß wie Tirol erstreckt, ist nicht nur ausgewiesenes Naturschutzgebiet. Im Jahr 1990 war es per Gesetz den drei indigenen Volksstämmen der Mojeño, Yuracaré und Chimán zuerkannt worden, welche dieses heute autonom verwalten.

"Es ist mir ein großes Anliegen, La Paz mit dem bolivianischen Osten und Brasilien zu verbinden", sagte Präsident Evo Morales in seiner Antrittsrede im Jahr 2006. Sein Wunsch ist, das Land wirtschaftlich voranzubringen und dadurch der großen Armut, die in Bolivien bei über 50% liegt, den Kampf anzusagen. Alleine im Jahr 2010 wurden 12.000 Kilometer asphaltierte Straßen gebaut, um den Menschen Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. 2009 hatte Evo Morales ein Abkommen mit Brasilien unterschrieben, um eine Schnellstraße von Villa Tunari im Bundesstaat Cochabamba nach San Ignacio de Moxos im Bundesstaat Beni zu finanzieren. Dieses Projekt sollte nun begonnen werden. Das Problem: die Schnellstraße würde direkt durch den TIPNIS-Nationalpark führen.


Protest und Repression

Auf den ersten Blick weist das Projekt ambivalente Züge auf. Immerhin hat sich Präsident Evo Morales auf der UN-Klimakonferenz in Cancún 2010 vehement für mehr Rücksicht auf den Planeten eingesetzt. Außerdem wurde in Bolivien ein Gesetz verabschiedet, welches der "Pachamama" (was in der indigenen Sprache Aymara so viel wie "Mutter Erde" bedeutet) Schutz und Respekt per Verfassung zuspricht. Dennoch will die Regierung die umstrittene Straße durch den Nationalpark bauen lassen.

Am 15. August packen die Indigenen des TIPNIS schließlich ihre Sachen. Sie wollen sich mit dieser Entscheidung, die aus dem fernen La Paz kommt, nicht zufrieden geben. Sie beginnen einen Protestmarsch, der 65 Tage dauern sollte.

Die Indigenen befürchten, dass die Straße ein Eindringen von Kokabauern in das fruchtbare Gebiet des TIPNIS sowie den Raubbau an natürlichen Ressourcen begünstigen und ihnen dadurch ihre Lebensgrundlage genommen werden würde. Die Regierung hingegen argumentiert, dass gerade die Straße all dem entgegenwirken und das Gebiet dadurch besser geschützt werden könnte. Nach außen hin wurde der Streit als ein Konflikt zwischen den unterschiedlichen indignen Gruppen des Landes dargestellt. Die Hauptwählergruppe des ebenfalls indigenen Präsidenten würde sich gegen ihn stellen, meinten manche. So einfach aber - das lässt sich bei genauerem Hinsehen erkennen - ist die Situation nicht gestrickt. Die Bewohner des TIPNIS werden vor allem in den internationalen Medien oftmals als eine Mehrheit dargestellt, gegen die sich die Pläne der Regierung richten. Umfragen zeigen jedoch, dass nach wie vor der Großteil der bolivianischen Bevölkerung hinter dem Präsidenten steht und das Straßenbauprojekt befürwortet.

Am 19. Oktober kommt der Protestmarsch schließlich in La Paz an. Zuvor waren die Verteidigungsministerin María Cecilia Chacón Rendón und der Innenminister Sacha Llorenti von ihren Ämtern zurückgetreten, nachdem die Indigenen von Einheiten der Polizei angegriffen und brutal verprügelt worden waren. Als die Protestierenden an diesem Mittwoch in La Paz einziehen, ist die Stadt voller Menschen, welche sich den TIPNIS-Indigenen solidarisch zeigen und diese mit Plakaten empfangen. Die Polizei-Repression hatte die Stimmung gegen die Regierung Morales erst recht aufgeheizt und womöglich manch einen Straßenbefürworter zu einem Gegner gemacht. Das Land, das zwar auf dem Papier seit 1982 als Demokratie geführt wird, aber über Jahrzehnte hinweg autoritären Regierungspraktiken unterworfen war, wurde durch den TIPNIS-Konflikt neuerlich in seiner Demokratiefähigkeit auf die Probe gestellt.


Konfliktlösung

Zwei Tage nach dem Einzug der TIPNIS-Indigenen in La Paz erklärt Evo Morales schließlich, der Streit wäre beigelegt. Er hatte sich am Freitag, den 21. Oktober, mit zwanzig Vertretern des Protestmarsches zusammengesetzt, um eine Lösung für das Problem zu finden. Die Straße würde nicht durch das Gebiet des TIPNIS führen, verkündet er später am Nachmittag in einer Pressekonferenz. Man werde ein Gesetz verabschieden, das jeglichen Straßenbau durch den Isiboro-Secure-Nationalpark verbietet.

Im letzten Moment konnte der bolivianische Präsident eine Eskalation des Konflikts verhindern. Der Spagat zwischen der Hoffnung auf wirtschaftliches Wachstum und dem Respekt gegenüber der Natur und indigenen Weltanschauungen, sowie die vielen unterschiedlichen Interessen im Land, stellen den Plurinationalen Staat Bolivien immer wieder aufs Neue auf den Prüfstand. Doch Evo Morales betont bei jedem Konflikt, der im Land aufkommt, dass die Strategie die sein müsse, zu „regieren, indem man dem Volk gehorcht."

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