Hanna Silbermayr

Freie Auslandsjournalistin, Caracas

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Radio FM4 - Online (18)

Es begann mit der Vergewaltigung einer Studentin am Campus der Universität de los Andes in der ersten Februarwoche diesen Jahres. Ein Momentum, das das Fass zum Überlaufen brachte und Studenten im Bundesstaat Táchira auf die Straßen trieb, um gegen die steigende Kriminalität in Venezuela zu protestieren.


Eigentlich sollte der Protest friedlich verlaufen. Doch die Situation eskalierte, als Präsident Nicolás Maduro die Demonstrationen von nationalen Sicherheitskräften niederschlagen ließ. In immer mehr venezolanischen Städten solidarisierten sich Menschen und gingen Studenten auf die Straßen, um ihrem Unmut Luft zu machen. Und man reagierte ein ums andere Mal mit Wasserwerfern und Tränengas.


Seit Wochen dauern die Proteste nun an. Das Resultat sind bisher 34 Todesopfer, Hunderte Verletzte und mehr als Tausend - zumindest vorübergehende - Festnahmen. Nur ein Jahr nach dem Tod von Hugo Chávez steckt Venezuela in einer tiefen Krise fest.


Kriminalität und fehlende Lebensmittel

Wie konnte es so weit kommen? Wirkte das Land nach dem Tod des selbsternannten Revolutionärs Chávez in seiner Trauer doch vereinter denn je, sieht man heute: Der Schein trügte. Die Ursachen des aktuellen Konflikts liegen tief und haben sich während des letzten Jahres noch verschärft.


Schon bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2012 zeichnete sich ab, dass das Konstrukt, das Hugo Chávez im Namen seiner Bolivarischen Revolution geschaffen hatte, zu bröckeln begann. Zwar gewann er die Wahlen, doch er besiegte seinen Kontrahenten Henrique Capriles mit 54% der abgegebenen Stimmen nur knapp. Und heute sieht sich Chávez' engster Vertrauter und Nachfolger Nicolás Maduro mit dem Erbe einer womöglich gescheiterten Revolution konfrontiert.


In internationalen Statistiken zeigt sich Venezuela von einer immer alamierenderen Seite. So verzeichnet das Land etwa eine der weltweit höchsten Mordraten und reiht sich damit hinter Staaten wie Honduras und El Salvador auf Platz 5 der traurigen Liste ein. Diese Realität führte Ende Januar der Raubüberfall auf die ehemalige Miss Venezuela Mónica Spear, bei dem sie und ihr Lebensgefährte erschossen wurden, den Venezolanern drastisch vor Augen. Schon damals forderte Oppositionspolitiker Capriles Präsident Maduro über Twitter dazu auf, trotz politischer Divergenzen eine Front zu bilden und gemeinsam gegen die ausufernde Gewalt im Land anzukämpfen.


Andere Zahlen zeigen wiederum, worin die Ursachen dieses hohen Gewaltpotentials liegen könnten. Denn Venezuela verzeichnete 2013 mit 56,2% die weltweit höchste Inflationsrate. Für die Bevölkerung bedeutet das immer teurere Lebensmittel. Oder gar keine Lebensmittel. Und wenn dann doch mal Mehl im Supermarkt eintrifft, herrscht Chaos und versucht jeder, gleich mehrere Packungen davon auf Vorrat zu ergattern.


Repression als Antwort

Die aktuellen Proteste sind Reaktionen auf eine Situation, die diese Statistiken schon lange zeigen. Und vermochte Hugo Chávez sie durch sein Charisma wettzumachen, so scheitert Nicolás Maduro kläglich daran. Anstatt den Unmut der Bevölkerung, allen voran der Mittelschicht, ernst zu nehmen, antwortet er mit Repression auf deren Aufschrei.


Diese Repression äußerte sich nicht nur in Tränengas und Wasserwerfern. Videos auf Youtube zeigen, wie mit schwarfer Munition auf Demonstranten geschossen wird. Zusätzlich dokumentierte die NGO Foro Penal Venezolano ab Beginn der Proteste Anfang Februar 59 Fälle von Menschenrechtsverletzungen: unter anderem willkürliche Festnahmen, Schläge, Demütigung, Androhung von Vergewaltigung sowie Folterungen mit Elektroschocks in Haft.


Die Schuld an der Eskalation der Proteste sucht die Regierung unter Nicolás Maduro bei politischen Gegnern und ausgewiesenen Feinden, wie etwa den USA. Am 18. Februar wurde der Oppositionspolitiker Leopoldo López festgenommen, dem die Regierung vorwirft, die Proteste initiiert zu haben. Er gilt als Führer des radikaleren Teils der Opposition, der die Entmachtung Maduros zum Ziel hat. Nach einer letzten Rede übergibt er sich öffentlichkeitswirksam selbst der Justiz, um - wie er sagt - die nicht vorhandene Gewaltenteilung zwischen Justiz und Politik zu beweisen.


Als der US-amerikanische Außenminister John Kerry in einer Aussendung seine Sorgen über die menschenrechtliche Situation in Venezuela und die Festnahme López' äußert, reagiert die venezolanische Regierung mit der Ausweisung US-amerikanischer Diplomaten. Die USA würden den Putschversuch in Venezuela legitimieren und unterstützen, heißt es.


Unterdessen wurden vergangene Woche zwei weitere Oppositionspolitiker festgenommen. Daniel Ceballos, Bürgermeister von San Cristóbal, Hauptstadt des Bundesstaates Táchira, wo die Proteste ihren Ausgang nahmen, und Enzo Scarano, Bürgermeister von San Diego im ebenfalls umkämpften Bundesstaat Carabobo. Ihnen wird vorgeworfen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, wozu sie laut Verfassung und Landespolizeigesetzen verpflichtet wären. Henriques Capriles, der Präsidentschaftskandidat der Opposition im Jahr 2012, wirft Nicolás Maduro vor, mit diesen Festnahmen weiter Öl ins Feuer zu schütten. Er wäre damit verantwortlich für das, was derzeit in Venezuela passierte.


Drohender Bürgerkrieg?

Am Samstag hatte die Opposition zu einem gigantischen Protestmarsch in der Hauptstadt Caracas aufgerufen, dem Tausende Venezolaner folgten. Auch in anderen Bundesstaaten wurde gegen die Festnahme der zwei Oppositionspolitiker demonstriert. Und wieder gab es Tote.


Währenddessen versammelten sich regierungstreue Anhänger zu einer Gegendemonstration um Nicolás Maduro. Die Rede, die der Präsident im Zuge dessen hält, ist widersprüchlich. Lädt er einerseits die Opposition zu Gesprächen ein, droht er andererseits mit der Festnahme weiterer Oppositionspolitiker, die er namentlich nennt.


Richtete sich der Protest der venezolanischen Studenten zu Beginn noch gegen die ausufernde Kriminalität, wandelte er sich im Laufe der Wochen in den Ruf nach einer Absetzung Maduros als Präsident. Die Stimmung im Land ist aufgeheizt und offenbar will keine der beiden Seiten - weder die Regierung noch die Opposition - die Lage deeskalieren. Und während die einen auf eine friedliche Lösung des Konflikts hoffen, sprechen andere bereits von einem aufkeimenden Bürgerkrieg.

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