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Gekommen, um zu bleiben

Genügend Abstand? Demonstranten am Samstag in Berlin

Als die Polizei die Anti-Corona-Kundgebung in Berlin nach einer halben Stunde schon wieder beenden wollte, war die Sache für einen Demonstranten klar: „Das ist ja DDR in Reinkultur“, rief er. Sein sächsischer Dialekt war nicht zu überhören. Die Demonstranten hatten die Hygieneregeln nicht eingehalten, deshalb sollten sie das Gelände zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule wieder verlassen. Eine Mischung aus Empörung und Kampfeslust machte sich unter den rund 20 000 Teilnehmern breit, teilweise waren sie aus ganz Deutschland angereist. Für sie kam es nicht in Frage, der Aufforderung der Polizei zu folgen. Im Gegenteil. Man fühlte sich im Recht – und überlegen.

Die Veranstalter sprachen von 1,3 Millionen „Freiheitskämpfern“, die sich nun auf den Boden setzen und notfalls von der Polizei wegtragen lassen sollten. „Wir bleiben hier, wir bleiben hier“, skandierten die Demonstranten und nahmen die nach einer Dreiviertelstunde eintreffenden Polizisten mit Buhrufen in Empfang. Die Beamten besetzten zunächst die Büh- ne. Doch der große Rest des Areals, auf dem die Demonstranten bei Sommerhitze dicht an dicht und ohne Masken standen, blieb weiter voll.

Die Botschaften, welche die Teilnehmer zu senden versuchten, waren vielfältig. Auf einem Schild stand: „Nein zur Diktatur der Neuen Normalität“. Auf einem anderen: „Gib Bill Gates keine Chance“, gemeint ist der Gründer des amerikanischen Microsoft-Konzerns. Er hatte früh vor einer Pandemie globalen Ausmaßes gewarnt. Auf einem anderen Schild stand: „Auf in den Kampf“. Der Verschwörungstheoretiker Attila Hildmann, dessen eigene Demonstration verboten wurde, machte am Vortag in einem Video im Internet klar, wer zu dieser Demonstration kommen sollte: „Die, die genug haben vom Merkel-Regime, vom schädlichen Einfluss der Pharmaindustrie und Bill Gates, dem Schwerverbrecher.“

Mit dem Protest am Samstag wollten die Demonstranten nicht nur ihren Unmut über die Schritte der Bundesregierung gegen die – wie die Teilnehmer behaupteten – „Fake-Pandemie“ ausdrücken. Sie richteten sich damit auch gegen „das System“ an sich. Dazu gehörte eben auch die Polizei. Deren Durchsagen wurden mit „Pfui“-Rufen und Pfiffen übertönt, ausgestreckte Mittelfinger zeigten in Richtung der von der Polizei bereits besetzten Bühne. Die Demonstranten forderten die Beamten gar dazu auf, sich ihnen anzuschließen und den „Befehl von oben“ zu verweigern. Bundesgesundheits- minister Jens Spahn (CDU) kritisierte das Verhalten der Demonstranten scharf: „Ja, Demonstrationen müssen auch in Co- rona-Zeiten möglich sein. Aber nicht so“, schrieb er auf Twitter. Kritik kam auch von der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken. Sie twitterte: „Tausende Covidioten feiern sich in Berlin als ,die zweite Welle‘, ohne Abstand, ohne Maske.“

Kurz zuvor rief auf der Kundgebung ein Mann einem Polizisten zu: „Wir stehen hier, damit deine Kinder nicht in einer Diktatur leben müssen!“ Selbst vor Parallelen zum 17. Juni 1953, als Demonstrationen in der DDR gewaltsam niedergeschlagen wurden, schreckten manche Teilnehmer nicht zurück. Die Polizei werde „diese friedliche Revolution nicht nieder- schlagen“, hieß es. Die Kundgebung fand auf der Straße des 17. Juni statt. Ein Polizeiauto, das weitere Beamte in die Nähe der Bühne transportieren wollte, wurde unterdessen durch eine Sitzblockade aufgehalten. „Schämt euch, schämt euch“, schallte es dem Streifenwagen entgegen. Ein Mann riss die Tür des Streifenwagens auf und beschimpfte den Beamten. Kurz kam es zu einem Handgemenge. Nach einer kurzen Diskussion unter den Demonstranten, ob „ein bisschen Aggression“ jetzt nicht angebracht sei, beruhigte sich die Situation wieder. Das Polizeiauto legte schließlich den Rückwärtsgang ein. Triumphales Gegröle begleitete den Rückzug. Gegen 18 Uhr zogen auch die übrigen Polizisten ab, um den Reichstag zu schützen. Dorthin hatte sich ein Teil der Demonstranten zu einer spontanen Kund- gebung begeben. Auf der Straße des 17. Juni beschränkten sich die Beamten im späteren Verlauf des Abends auf das Räumen durch „individuelle Ansprache“. Sie trugen auch einzelne Personen weg. Für eine vollständige Zwangsräumung reichte die Zahl der Einsatzkräfte wohl nicht.

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