1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Im Windschatten von Corona

Hier entlang: Aktivisten lotsen Radfahrer auf einen Pop-up-Radweg im Wedding.

Für Lenz Weubel ist es eine verzwickte Lage, als er um halb neun Uhr morgens mit seinem Lieferwagen in der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg zum Stehen kommt. Für einen großen deutschen Supermarkt bringt er den Kunden die im Internet bestellten Lebensmittel nach Hause. Vor einigen Wochen wurde das noch auf den Balkonen beklatscht, heute wird er beschimpft. Weubel lädt gerade Tüten und Kisten auf seine Sackkarre, als ein Radfahrer vor ihm abbremst und ihn unwirsch auffordert, den Lieferwagen wegzufahren, weil er auf dem Radweg stehe. Während des Corona-Lockdowns ist die Kantstraße nämlich von einer vierspurigen zu einer zweispurigen Straße geworden. Die jeweils rechten Fahrspuren wurden zu „Pop-up-Radwegen" umgewandelt. Statt auf dem Bürgersteig fahren Radfahrer nun auf einer eigenen Spur auf der Straße.

Nicht nur in Charlottenburg hat die Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz den Corona-Stillstand genutzt, um dem Radverkehr eine eigene Spur zu geben. Insgesamt 22 Kilometer Autospuren wurden seit Ende März auf einem Dutzend Straßen in temporäre Fahrradwege umgewandelt; 30 bis 50 weitere Kilometer sollen bis Jahresende folgen. Für Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) wurden so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: „Wir schaffen eine sichere Infrastruktur, um die Berliner zum Radfahren zu motivieren - und damit sie jetzt in der Pandemie-Zeit genügend Abstand halten können." Tatsächlich wuchs der Radverkehr in Berlin allein im April um fast sechs Prozent gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr, während weniger Menschen das Auto oder öffentliche Verkehrsmittel nutzten.

Damit Menschen mit systemrelevanten Berufen ohne erhöhtes Infektionsrisiko zur Arbeit fahren können, müsse zügig ein sicherer Radverkehr gewährleistet wer- den. So begründete die Senatsverwaltung die Einrichtung des Pop-up-Radwegs in der Kantstraße. Da es um eine vorläufige Einrichtung ging, reichte die provisori- sche Markierung. Gelbe Radsymbole und Trennungsstreifen waren schnell auf die Straßen gemalt. Binnen weniger Tage wa- ren Dutzende Autospuren umgewandelt. Regine Günther glaubt, die Berliner Pop- up-Radwege hätten in Deutschland und so- gar international Strahlkraft.

Die Entschlossenheit des Senats kommt bei der Opposition gar nicht gut an. Dort fühlt man sich überrumpelt. Der Berliner CDU-Chef Kai Wegner wirft Günther Aktionismus vor: „Hier wurden während Corona wild und panisch ein paar Linien auf der Straße gezogen, um die Fahrradbilanz der grünen Verkehrs- senatorin zu verbessern.“ Die Radwege als Corona-Maßnahme auszugeben hält er für scheinheilig: „Mir kommt es so vor, dass die Corona-Zeit schlicht und einfach genutzt wurde, um bestimmte Dinge ein- fach mal zu machen.“

In der Tat sind die Pop-up-Radwege für die Senatorin nur der erste Schritt in der anvisierten Verkehrswende. Man müsse das Missverhältnis beenden, dass es teil- weise drei Autospuren und keinen Fahr- radweg gebe. Die Corona- soll zur Dauer- Maßnahme werden. „Corona war für uns

der Auslöser, um gewisse Maßnahmen, für die sonst längere Planungen nötig sind, zu beschleunigen“, sagt Günther.

Daran entzündet sich auch die Kritik der Berliner FDP. Die provisorischen Wege einfach in dauerhafte umzuwandeln sei rechtlich nicht möglich. Für den Bau ei- nes permanenten Radwegs sei ein ausführ- liches Genehmigungsverfahren nötig ge- wesen, bei dem auch Anwohner, Einsatz- kräfte und die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) hätten einbezogen werden müs- sen. „Man hat Corona genutzt, um etwas kurzfristig durchzusetzen, was man sowie- so machen wollte, aber unter innovativer Auslegung der Rechtslage“, kritisiert Hen- ner Schmidt, der verkehrspolitische Spre- cher der Liberalen. Beim wissenschaftli- chen Dienst des Abgeordnetenhauses hat er deshalb die rechtliche Prüfung des Vor- habens beantragt. Zu welchen Problemen es führt, wenn man andere Verkehrsteil- nehmer nicht einbezieht, zeige sich beson- ders auf der Kantstraße. Da es jetzt nur noch eine Autospur pro Richtung gibt, würden Busse und auch Rettungsfahrzeu- ge behindert.

Auch Lenz Weubel fühlt sich übergan- gen: „Ich glaube, man hat bei der Stadt ein- fach nicht an uns gedacht.“ Denn als Lie- ferdienst müsse er nun mal in der zweiten Reihe parken. Da dort jetzt aber der Rad- weg ist, sind Fahrradfahrer genötigt, auf die Autospur auszuscheren – ein gefährli- ches Manöver. Das war zwar schon ohne Pop-up-Weg so, wenn die Radfahrer auf der Straße fuhren, aber mit der Umwid- mung der rechten Spur haben sie nun das Recht, auf Lieferanten sauer zu sein.

Günther hält diese Debatte für „häufig unehrlich“. Das Problem sei das Phäno- men der „Zweite-Reihe-Parker“ und nicht der Radweg. Trotzdem verspricht sie, den Lieferverkehr besser einzubeziehen. Lade- zonen oder Mikrodepots seien denkbar. Dass Radwege dämonisiert werden, will

sie nicht zulassen. Als zu groß empfindet sie dafür die öffentliche Zustimmung. Die erfährt auch Canan Bayram. Die Berliner Grünen-Politikerin ist die einzige direkt gewählte Bundestagsabgeordnete ihrer Partei und hat ihren Wahlkreis in Fried- richshain-Kreuzberg. Dort entstanden Ende März die ersten Pop-up-Radwege der Stadt. „Alle Leute, denen ich begegnet bin, ob Fußgänger oder Radfahrer, freuen sich, dass endlich etwas für sie getan wur- de“, sagt Bayram. Sie selbst legt ihren Weg zur Arbeit von der Frankfurter Allee bis zum Bundestag auch mit dem Rad zurück: „Das Fahren über diese breiten Pop-up- Wege ist einfach ein Genuss und dazu noch viel sicherer.“ Man habe mehr Platz, um andere zu überholen und werde nicht von den Autos beeinträchtigt.

Diesen Eindruck bestätigt Sophia Be- cker. Sie ist Professorin für nachhaltige Mobilität an der Technischen Universität Berlin und hat die Reaktion auf die Pop- up-Radwege erforscht. Eine Studie unter Verkehrsteilnehmern hat ergeben, dass eine Koalition aus Radfahrern, Fußgän- gern und ÖPNV-Nutzern die Radwege mit überwältigender Mehrheit begrüßt. „Vor allem der Faktor Sicherheit, aber auch eine geringere Unfallgefahr durch sich öff- nende Türen von parkenden Autos ma- chen sie für die Radfahrer so attraktiv“, sagt Becker. Autofahrer lehnen die neuen Wege hingegen zu 80 Prozent ab.

Die Neuaufteilung des öffentlichen Raums benennt Senatorin Günther offen- siv: „Wir müssen allen klar sagen, dass für Autos in Zukunft weniger Platz zur Verfü- gung stehen wird.“ Der Individualverkehr soll dadurch verringert werden, dass das Radfahren zur bequemen und sicheren Al- ternative wird. CDU-Chef Wegner sieht sich da in seinem Gefühl bestärkt, „dass es in erster Linie nicht darum geht, etwas für das Fahrrad zu tun, sondern etwas gegen das Auto“.

Zum Original