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Die Poesie von Schlamm und Ziegelsteinen

Man sagte, sie stecke ihre Kamera in den Schlamm Ägyptens. Fast buchstäblich tat sie das in ihrem Debütfilm Horse of Mud, in dem sie Anfang der 1970er-Jahre die Herstellung von Ziegelsteinen in einer Fabrik am Nil dokumentierte. Im übertragenen Sinne bezog sich die Metapher von der Kamera im Schlamm auf die Personen und Themen, denen sich die ägyptische Filmemacherin Atteyat Al Abnoudy (1939-2018) in ihren Werken vorzugsweise widmete: Marginalisierte in einem ländlichen und urbanen Kontext, Frauen und Kinder, die keinen Zugang zu Bildung haben, und Menschen, die in Armut leben. Von der sozialen Ungleichheit in Ägypten erzählte Al Abnoudy und von einer Seite der Gesellschaft, die bis dahin im ägyptischen Kino kaum dargestellt worden war.

„Wir essen, wenn es etwas zu essen gibt“

Während ihrer Ausbildung am Cairo Higher Institute of Cinema entstanden, gilt Horse of Mud (1971) bis heute als der erste von einer Frau gedrehte Dokumentarfilm aus Ägypten. Aufgrund des beschränkten Budgets brauchte Atteyat Al Abnoudy zwei Jahre, um den zehnminütigen Film fertigzustellen. In einem Stil, den die Filmemacherin selbst als „poetischen Realismus“ bezeichnete, dokumentiert Horse of Mud den Herstellungsprozess von Ziegelsteinen sowie die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Gleichzeitig vermag der Film es, die poetische Seite dieses Ortes zu zeigen. Die immer gleichen Bewegungsabläufe werden zu schönen, vom Gesang begleiteten Choreografien, die mit den dramatischen, aus dem Off erzählten Erlebnissen der Arbeiterinnen und Arbeiter kontrastieren. So erfahren wir, dass 7.500 Ziegelsteine 15 Piaster Lohn entsprechen und dass schon kleine Mädchen rund 20 Ziegelsteine mit einem Gesamtgewicht von 25 Kilo auf dem Kopf tragen. „Wir essen, wenn es was zu essen gibt“, sagt eine Stimme. „Nicht mal meinen Namen kann ich schreiben“, eine andere. Al Abnoudy zeigt die Lebensrealität dieser Menschen ohne Vermittlung oder Kommentar.

Mit ihren 22 Filmen gewann Atteyat Al Abnoudy rund 30 internationale Auszeichnungen. Auch in Deutschland wurden ihre Arbeiten sehr geschätzt. In Ägypten forderte ihr Blick auf die Benachteiligten hingegen die Konventionen eines meist eskapistischen Kinos heraus und wurde von der Regierung mit Besorgnis wahrgenommen. Al Abnoudy konnte dort keine breitere Öffentlichkeit erreichen. Vom 2. bis 7. Juli 2019 widmet nun das Berliner Kino Arsenal dem Werk der Pionierin des ägyptischen Dokumentarfilms eine umfassende Retrospektive. Gezeigt werden ihre frühesten und berühmtesten Filme wie Horse of Mud und Sad Song of Touha (1972), aber auch für ihren Stil ungewöhnliche Werke wie Permissible Dreams (1983). Aufnahmen, die Al Abnoudy bei der Arbeit zeigen (Rushes, 1970er-90er Jahre), sind ebenfalls zu sehen.

Die Retrospektive war lange in der Planung

Organisiert wurde die Filmreihe zusammen mit der Kairoer Cimatheque – Alternative Film Centre, der Al Abnoudy kurz nach der Revolution ihr privates Archiv anvertraute und die sich um dessen Aufarbeitung und Digitalisierung kümmerte. „Ihr Werk wurde mehrmals international gezeigt, aber wir wollten schon lange eine umfassende Retrospektive ihres Schaffens kuratieren. Es schien uns wichtig, dass dies in Deutschland passiert, wo Atteyat sehr bekannt und auf etlichen Festivals vertreten war, zum Beispiel in Oberhausen und Mannheim“, sagt der Filmemacher und Mitbegründer der Cimatheque Tamer El Said, der im Rahmen der Berliner Retrospektive thematische Einführungen zu allen Filmen gibt.

Als Al Abnoudy anfing, Filme zu drehen, gehörten Gesichter und Geschichten aus der Unterschicht nicht zum offiziellen Filmnarrativ des sogenannten „Hollywoods am Nil“. Die „unattraktivere“ Seite des Landes wurde ausgeblendet. Al Abnoudy zählte zu der Generation von Filmemacherinnen und Filmemachern, die Ende der 1960er-Jahre begann, dieses Narrativ infrage zu stellen, sich für die gesellschaftliche und politische Realität Ägyptens zu interessieren und mit dem damaligen Verständnis von Dokumentarfilm zu brechen. „Atteyat war einer der großen Namen, die die Definition des Dokumentarfilms in der arabischen Welt veränderten“, erklärt El Said. „Davor gab es nur rein informative oder propagandistische Dokumentarfilme. Es war ihre Generation, die anfing, den Dokumentarfilm als ein Mittel zu begreifen, um über die Gesellschaft nachzudenken und die Realität zu hinterfragen.“

„Der Film ist ein bürgerliches Medium“

In eine Familie der Arbeiterklasse hineingeboren, vergaß Atteyat Al Abnoudy trotz ihres Jurastudiums, ihrer journalistischen Tätigkeit und ihres Aufstiegs als Filmemacherin nie ihre Wurzeln. Im Gegenteil knüpfte sie in der Wahl ihrer Themen, Protagonistinnen und Protagonisten stets an ihre Kindheit und Jugend in einem kleinen Dorf im Nildelta an. Sie sprach Probleme an, die sie als sehr persönlich wahrnahm. In einem Interview mit Festival News 1991 meinte Al Abnoudy: „Ich stamme aus der Arbeiterklasse, der Film aber ist ein bürgerliches Medium. Man muss stark sein, um die Beziehung zur eigenen Klasse aufrechtzuerhalten, sonst ist man verloren“.

In ihren Filmen verleiht Al Abnoudy den Benachteiligten eine Stimme und ein Gesicht. Sie schreibt sie dadurch in die ägyptische Geschichte und Gesellschaft ein. In Horse of Mud sind es die Arbeiterinnen und Arbeiter der Ziegelsteinfabrik am Nil, in Sad Song of Touha die Straßenkünstlerinnen und -künstler in Kairo, in Into the depth die Schülerinnen und Schüler in den ländlichen, meistens nicht alphabetisierten Regionen Ägyptens. Al Abnoudy vermag es dabei, das Poetische in den von ihr dokumentierten bitteren Realitäten aufzuspüren. In Sad Song of Touha beispielsweise porträtiert sie das faszinierende und zugleich durch Ausbeutung gekennzeichnete Leben junger Straßenkünstlerinnen und -künstler. Die Off-Stimme rezitiert ein Gedicht ihres Ehemanns Abdel Rahman El-Abnoudy, das über die traumartigen und melancholischen Bilder gelegt die Lebensrealität der Performerinnen und Performer, den Akt des Zusehens und die soziale Ungleichheit gleichzeitig sensibel und schonungslos hinterfragt. Das Unaussprechliche findet einen Ausdruck in der Kunst.

Die zulässigen Träume einer Bäuerin

Frauen und Mädchen schenkt Atteyat Al Abnoudy in ihren Werken besondere Aufmerksamkeit. Sie verleiht ihnen nicht nur die Möglichkeit zur Repräsentation, sondern macht sie zu Akteurinnen, indem sie sie für sich selbst sprechen lässt und ihre körperliche Präsenz betont. Besonders deutlich wird das in Permissible Dreams, den Al Abnoudy für den britischen Fernsehsender Channel 4 drehte. Abweichend von ihrem gewöhnlichen Stil, der auf Talking Heads verzichtet, spricht die Landwirtin Aziza in diesem Fall direkt in die Kamera. Sie erzählt, wie sie schon mit vier zu arbeiten anfing, mit 14 heiratete und dann 13 Kinder bekam, von denen drei nicht überlebten. In der Zone des Suezkanals führt sie ein hartes Leben: Sie melkt Kühe, arbeitet auf dem Feld, kocht, kümmert sich um den Haushalt und versucht dadurch, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.

Besonders für ihre Töchter wünscht sich Aziza eine Ausbildung. Sie selbst kann weder lesen noch schreiben, doch ist sie diejenige, die das Familienbudget verwaltet. Alles rechne sie im Kopf. An manchen Stellen erscheint Aziza kämpferisch, doch wie von der sie umgebenden Ungerechtigkeit erschlagen, erkennt sie am Schluss: „My dreams are permissible.“ Azizas Hände, Gesichtsausdruck und Gestik hebt Al Abnoudy durch Nahaufnahmen hervor, schafft somit Empathie zwischen Publikum und Protagonistin und zeigt gleichzeitig die Nähe zu ihrer Hauptfigur.

Eine Pionierin war Al Abnoudy ebenfalls in Bezug auf alternative Produktionsmodelle. Als erste Frau in Ägypten gründete sie mit „Abnoud Film“ ihre eigene Produktionsfirma, um die vollständige Kontrolle über ihre Werke zu haben und nicht der Agenda anderer Produzentinnen oder Produzenten folgen zu müssen. „Sie war eine der ersten unabhängigen Filmemacherinnen Ägyptens. Während die meisten miteinander konkurrierten, um stattliche Finanzierungen für die eigene Arbeit zu bekommen, ging Atteyat den entgegengesetzten Weg. Dadurch inspirierte sie viele Menschen in der Branche, Frauen wie Männer, mich eingeschlossen“, meint Tamer El Said.

„Atteyat verstand als erste, dass die Cimatheque Zugänglichkeit vermitteln sollte“

Schon zu Lebzeiten war sich Al Abnoudy der eigenen Vorbildrolle sowie der damit zusammenhängenden Verantwortung für jüngere Generationen bewusst. Sie war diejenige, die im Rahmen der Arbeit der Kairoer Cimatheque den Anstoß gab, ein öffentlich zugängliches Filmarchiv zu gründen. „Zur ursprünglichen Vision der Cimatheque gehörte kein Archiv“, erinnert sich El Said. „Atteyat verstand als erste, dass die Cimatheque in erster Linie Zugänglichkeit vermitteln sollte. 2011 teilte sie ihr privates Archiv mit uns, weil sie den jüngeren Generationen Wissen weitervermitteln wollte und wusste, dass wir es anders als der Staat für alle zugänglich machen würden. Dadurch hat sie die Entwicklung des Zentrums wesentlich mitgeprägt.“

Die im Kino Arsenal gezeigte Retrospektive von Al Abnoudys Werk stand schon lange auf der Liste der Veranstalterinnen und Veranstalter. Leider musste sie wegen des schlechten Gesundheitszustands der Filmemacherin mehrmals verschoben werden, bis Al Abnoudy schließlich im Oktober 2018 verstarb. Sie hinterlässt Filme, die auch nach mehreren Jahrzehnten nichts an Relevanz und Aktualität eingebüßt haben. Tamer El Said kommentiert: „Die Rechte von Marginalisierten, Armen und Frauen sind nach wie vor drängende Fragen in unserer globalen Gesellschaft“.

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