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Italiens geschlossene Schulen machen krank - Praxis

Italiens Schulen sind in der zweiten Pandemiewelle weitestgehend geschlossen. Foto: Taken / pixabay

Sieben Monate lang blieben Schulen in Italien coronabedingt geschlossen, länger als in jedem anderen europäischen Land. Mitten in der zweiten Pandemiewelle machen sie wieder dicht. Obwohl Gesundheit und Bildung eigentlich zusammengedacht gehören. Ein Kommentar. 

Rom, 2. November, 2020: Rund fünfzig Schüler*innen sitzen auf der Außentreppe des Bildungsministeriums. Sie tragen Mundschutz und halten Abstand voneinander. Über die Bildschirme ihrer Smartphones und Laptops nehmen sie von dort aus am Unterricht teil. Zusammengekommen sind sie, um gegen die von der Regierung beschlossenen erneuten Schulschließungen zu protestieren. Auf einem ihrer Banner steht in Großbuchstaben: "Wir wollen unser Recht auf Bildung schützen."

Italien war das erste Land in Europa, das zu Beginn der Pandemie flächendeckende Schulschließungen veranlasste. Erst nach knapp sieben Monaten wurde der Schulbetrieb unter Auflagen am 14. September wieder aufgenommen. Am ersten Schultag war die Euphorie der Schüler*innen und Lehrkräfte groß, die Versprechen der Politik ebenfalls: Nie wieder würde man die Schulen schließen, hatte Schulministerin Lucia Azzolina schon den ganzen Sommer bei jeder Gelegenheit wiederholt. Kurze Zeit später kam doch alles anders.

Schüler*innenproteste in zahlreichen Städten

Als die Zahl der Neuinfektionen Mitte Oktober in die Höhe schoss, ordnete die Regierung für die Schüler*innen der fünf höchsten Jahrgangsstufen Homeschooling von mindestens 75 Prozent an. Binnen weniger Tage wurde das Dekret weiter verschärft: Seit dem 8. November sitzt knapp die Hälfte aller Schulpflichtigen wieder zu Hause vor den Bildschirmen. Unter den Schüler*innen selbst stoßen die erneuten Schließungen auf Kritik. Laut der aus Lehrkräften und Eltern bestehenden Gruppe Priorität Schule, die mittlerweile Proteste in mehreren italienischen Städten organisiert, wurden Bildungseinrichtungen "zum Sündenbock für Mängel des Gesundheitsbereichs und des öffentlichen Verkehrs" gemacht.

Von den Schließungen ausgenommen sind bisher Kitas und Grundschulen, jedoch nicht flächendeckend. Denn auf Lokalebene werden Bildungseinrichtungen auch im Alleingang vorbeugend zugemacht. Auch Universitäten bleiben im ganzen Land weitestgehend zu. Lediglich Erstsemester dürfen Kurse in Präsenz wahrnehmen.

Durch Pandemie spitzte sich die Lage an italienischen Schulen weiter zu

Schon vor der Pandemie stand das italienische Bildungssystem in Sachen Gerechtigkeit äußerst schlecht da. 2019 verzeichnete das Land laut dem Istituto Nazionale di Statistica ( Istat) eine der höchsten Schulabbrecher*innenquoten (13,5 Prozent) und die höchste Neet-Quote (Quote junger Menschen, die weder lernen, studieren noch arbeiten - 22,2 Prozent) der ganzen EU. Hinzu kommt, dass Kinderarmut sich seit der Wirtschaftskrise in Italien vervierfacht hat: 2019 gab es laut Istat über 1,1 Millionen Kinder, die in absoluter Armut lebten. Dabei ist allgemein bekannt, dass sich Einkommensarmut auf die Bildungschancen auswirkt.

Die siebenmonatige Unterbrechung des Präsenzunterrichts dürfte diese bereits sehr kritische Lage drastisch zugespitzt haben, wie unter anderem die italienische Soziologin Chiara Saraceno mit Nachdruck betont: "Die Schulabbrüche sind gestiegen, auch unter älteren Schüler*innen. Das können wir schon beobachten. In Turin kümmert sich mein Verein um vier Schulen der fünf letzten Jahrgangsstufen. Rund 120 Jugendliche haben während des Lockdowns den Anschluss verloren, darunter viele Mädchen und junge Frauen, die sich um ihre Geschwister kümmern müssen", erzählte Saraceno im August dem Magazin Left.

Umso befremdlicher wirkt unter diesen Prämissen das impulsiv wirkende Timing, während dem nun erneut zum Instrument der Schulschließung gegriffen wird. Ganz abgesehen davon, dass Wissenschaftler*innen wie Immunologin Antonella Viola die Erhebungen zum Infektionsgeschehen in Schulen als nicht zuverlässig einstufen, argumentiert die Politik trotzdem entschieden mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. Schutz der öffentlichen Gesundheit gegen Recht auf Bildung ist also die Abwägung. Doch das ist ein Fehler.

Schulausfall verstärkt soziale Ungleichheit

Denn Gesundheit und Bildung sind keine entgegengesetzten Pole. Im Gegenteil: Sie sind eng miteinander verknüpft. Dabei entspricht Gesundheit nicht bloß dem Freisein von körperlicher Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation definiert sie als einen "Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens". Für die Gewährleistung dieses Zustands sind Bildungseinrichtungen für junge Menschen essentiell, denn sie sind Orte, an denen neben Lehrinhalten auch soziale Kompetenzen erworben und Lebensperspektiven erweitert werden. Dies ist vor allem für das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen wichtig.

Hier könnte man zurecht einwenden, dass das Bildungssystem, so wie es jetzt ist, soziale Ungleichheit nicht auszugleichen vermag. In der Tat: Es reproduziert sie. Für Italien hat das Invalsi-Institut zuletzt 2019 Zahlen hierfür erhoben. Wenn Schule jedoch nicht stattfindet, verschärft sich soziale Ungleichheit. Die Soziologin Saraceno zieht dabei eine Parallele zu den Sommerferien, die in Italien wegen ihrer dreimonatigen Länge unter Bildungsexpert*innen in der Kritik stehen: Denn während dieser Zeit können Kinder aus privilegierten Haushalten zum Beispiel verreisen, während benachteiligte Kinder auf ihr soziales Umfeld zurückgeworfen werden. Ähnliches geschieht aktuell beim Homeschooling.

Tablets und Surfsticks reichen nicht aus

So ermittelte die Aufsichtsbehörde für das Kommunikationswesen Italiens ( AgCom) im Juni 2020, dass 10 Prozent aller Schüler*innen aus dem coronabedingten Fernunterricht komplett ausgeschlossen blieben und weitere 20 Prozent beschränkten Zugang hatten. Dass die Regierung nun 85 Millionen Euro bereitstellt, um benachteiligte Schüler*innen mit Tablets und Surfsticks auszustatten, ist sicherlich zu begrüßen. Doch Hardware alleine ist keine Allzwecklösung. Beengte Wohnverhältnisse, psychologische Belastungen oder Gewalt in der Familie erschweren die Teilhabe weiterhin. Besonders in diesen Fällen kann eine anhaltende Schulschließung gesundheitsgefährdend sein, unter anderem, da das Leid der Betroffenen so nicht mehr von Lehrkräften und Erzieher*innen wahrgenommen werden kann.

Wenn die Politik Schulen und Universitäten im Namen der öffentlichen Gesundheit schließt, sollte sie sich also zunächst fragen, wessen Gesundheit sie da schützt. Ganz sicher ist es nicht die von Kindern und Jugendlichen, denn diese hängt von geöffneten Bildungseinrichtungen ab. Es ist also an der Zeit, dass Gesundheit und Bildung zusammengedacht werden. Darum sollten Sicherheitskonzepte für Schulen und Universitäten sowie Erhebungen zum dortigen Infektionsgeschehen optimiert werden, um eine möglichst baldige und sichere Wiedereröffnung zu ermöglichen.

Außerdem braucht es einen langfristigen Blick auf die Zeit nach der Pandemie: Denn die Schließungen haben jetzt schon einen erheblichen Schaden angerichtet. Den wird man nur auffangen können, wenn man permanente Strukturen zur gezielten Förderung von Schüler*innen aus sozial benachteiligten Verhältnissen schafft.

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