Wenn Nicole Tigges mit Grippe im Bett liegt, kann es vorkommen, dass sie sich „braun fühlt", wenn sie Musik hört, fließen Farben vor ihrem inneren Auge dahin. Nicole Tigges ist keine Esoterikerin, sie hat auch keine überdrehte Phantasie. Die Fernsehjournalistin ist Synästhetikerin.
Auch Buchstaben haben für Nicole Tigges fest zugeordnete Farben: Das E ist rot, das I gelb und das X beige-braun. Die Farben begleiten sie seit ihrer Kindheit. „Ein Automatismus, wie das Heiß-Kalt-Empfinden, weder besonders hilfreich, noch störend - neutral eben", so beschreibt sie es. Ihre besondere Art der Wahrnehmung hat einen Namen: „Synästhesie". Ein äußerlicher Reiz löst bei Synästhetikern nicht nur die Reaktion eines Sinnes aus, sondern mehrerer Sinne, die normalerweise nicht gemeinsam reagieren. Dabei unterscheiden Wissenschaftler zwischen der intermodalen, bei der verschiedene Sinne, wie zum Beispiel Hören und Sehen, miteinander verknüpft sind, und der intramodalen Synästhesie, bei der die Kopplung innerhalb eines einzigen Sinnes besteht - der visuelle Eindruck eines Buchstaben also zum Beispiel den visuellen Eindruck einer Farbe hervorruft.
„Theoretisch sind alle Sinne miteinander verknüpfbar", sagt der Neurologieprofessor Peter Weiss-Blankenhorn, der sich seit zehn Jahren mit Synästhesie beschäftigt. Das bestätigt die Internetplattform www.daysyn.com, auf der seit 1993 Synästhesie-Arten gesammelt werden. 60 verschiedene Sinnes-Kopplungen sind aufgelistet: Manche Synästhetiker riechen Geräusche, andere hören Gerüche, wieder andere schmecken Berührungen. Zahlen, Buchstaben, Noten lösen Farbwahrnehmungen aus, ebenso können Gefühle mit Farb- oder Geräuscheindrücken verbunden sein.
Nicole Tigges hat nur zufällig erfahren, dass ihre Sinne anders funktionieren als die des Durchschnittsmenschen, für den ein Musikstück eben nicht „tief lilafarben" ist. Eine Kollegin der Fernsehjournalistin hatte einen Film produziert, in dem Menschen ihren Alltag mit Synästhesie schilderten. Nicole Tigges fand den Inhalt absurd. „Das sind drei ganz normale Leute, warum machst du über die einen Film?", habe sie die Kollegin gefragt. „Jeder Mensch geht erst einmal davon aus, dass er normal ist", sagt Weiss-Blankenhorn, daher sei die „Dunkelziffer" der Synästhetiker hoch. Zumal Synästhesie vererbt werden kann und es innerhalb einer Familie oft gar nicht auffällt, dass etwas anders ist.
Den Ursprung der Synästhesie vermutet man in der frühkindlichen Entwicklung: Bei Neugeborenen sind die Hirnareale stark miteinander verknüpft - einige dieser Verbindungen werden aber im Verlauf der ersten Lebensmonate abgebaut, „das Gehirn lässt übrig, was es braucht", so Weiss-Blankenhorn. Bei Synästhetikern bleiben die Verknüpfungen bestehen. Warum? Das ist nach wie vor ungeklärt.Für Nicole Tigges blieb ihre Art der Wahrnehmung auch mit wissenschaftlichem Namen etwas vollkommen Normales. „Ich habe mich gefragt: Wenn andere Menschen das nicht so empfinden, warum hören sie dann Musik?" Ihre „Leinwand im Kopf, über die jemand Farben gießt" macht für sie das Musikhören erst zu einem wirklichen Sinneserlebnis. Neben ihrer Buchstaben-Farb- und Klang-Farb-Synästhesie ist bei Nicole Tigges auch eine räumlich-visuelle Form ausgeprägt, das heißt, Zeiteinheiten und Zahlen sind für sie auf bestimmte Weise angeordnet. „Die Zahlen von null bis zehn stehen senkrecht in einer Reihe von unten nach oben." Soll sie nun zwei und acht zusammenzählen, rutscht die Zwei in der Linie nach oben zur Acht und wird mit ihr gemeinsam zur Zehn. Ebenfalls ein Automatismus.
Als Nicole Tigges sich in ihren Mann verliebte, wurde dieses Gefühl von „kleinen runden Pastelltönen" begleitet. Doch anders als den Buchstaben ist den Gefühlen nicht immer die gleiche Farbe zugeordnet. Verliebtsein könne auch ganz anders aussehen, so Nicole Tigges, ebenso wie Trauer nicht immer schwarz-braun-grau, sondern auch mal gelb sei.
Gianna Schlosser