Das habe ich noch nie gemacht: im Bademantel durch ein Hotel zu laufen. So eine Touristin bin ich nicht. Ich finde es auch nicht wahnsinnig entspannend, in diesem Aufzug anderen Gästen zu begegnen, die ebenso angezogen oder besser gesagt nicht angezogen sind.
Mein erster und einziger Berührungspunkt mit dem Thema „Kur" entstammt einer Episode meines Lebens, in der ich an Gesundheit keinen Gedanken verschwendete. Ich war sieben Jahre alt, spielte stundenlang draußen, hatte mal verschrammte Knie, war mal erkältet. Einige meiner Mitschüler fuhren regelmäßig zur Kur ans Meer, gute Luft atmen, oder so. Kur war für mich nur ein anderer, ein „vernünftiger" Name für Urlaub - ein Erwachsenending eben.
Und jetzt bin ich mittendrin, stecke bis zum Hals in einem blauen Plastiksack. Urlaub sieht definitiv anders aus, wenn man von irgendwelchen schrägen Adventure-Angeboten mal absieht, und erwachsen fühle ich mich schon nicht mehr, seit die Krankenschwester „Ausziehen!" gesagt hat.
Auf den Sack, der zwar aussieht wie ein Müllbeutel, den Beteuerungen der Ärztin zufolge aber im „medizinischen Fachhandel" erworben wurde, hat jemand mit Filzstift meinen Namen geschrieben. Außer mir befindet sich darin noch jede Menge Kohlenstoffdioxid - damit es nicht entweichen kann, wird das Plastik an meinem Hals mit einer Art Stauschlauch fixiert, so einem elastischen Ding, das man normalerweise beim Blutabnehmen um den Arm geschnürt bekommt. „Trockenes CO2-Gasbad" nennt sich die Prozedur, der ich mich in diesem weiß gekachelten, abgedunkelten Raum unterziehe - soll die Durchblutung fördern. In der Schule hatte ich zwar mal gelernt, dass CO2 irgendwie schädlich sei, aber das ist schon einige Jahre her, vielleicht gab es da bahnbrechend neue Erkenntnisse.
„Gute Nacht", wünscht die Krankenschwester und verschwindet. Die Frau auf der Nachbarliege ist bemüht, dieser Anweisung Folge zu leisten, wie ich an ihrem gleichmäßigen Schnaufen erkennen kann. In der nun folgenden Ewigkeit geht meine Haut mit dem Plastik ein klebriges Bündnis ein: Atme ich, scheint auch mein Müllsack zu atmen, versuche ich mich zu bewegen, macht das Plastik meine Umgebung lautstark darauf aufmerksam. Irgendwann, mittlerweile könnte ein ganzes Zeitalter vergangen sein, werde ich wieder befreit und alles fühlt sich an wie immer. In diesem Fall bin ich darüber eher erleichtert als enttäuscht.
Es ist gar nicht so leicht, bei dem ganzen Zirkus um kurierende Quellen, heilendes Moor, gesundheitsförderndes Gas und allerlei Magnetfeld- und Elektro- und Laserverfahren das nachweislich medizinisch Wirksame von den Angeboten zu trennen, die für ihre Wirkung eines besonders festen Glaubens bedürfen. Das CO2-Gasbad immerhin soll einer klinischen Untersuchung zufolge tatsächlich die Hautdurchblutung steigern.
Doch der tschechische Kurort Jáchymov, zu Deutsch Sankt Joachimsthal, ist eigentlich nicht für seine trockenen Gas-, sondern vor allem für seine nassen Radonbäder berühmt. Ja, genau: Bäder in radioaktivem Wasser, das aus dem Bergwerk Svornost gefördert und bis ins Hotel geleitet wird. Schon an der Tür zur Bäderabteilung leuchtet dem Kurgast das bekannte Warnzeichen für radioaktive Strahlung entgegen. Ich beobachte eine Weile, wie badebemantelte Menschen hinein- und auch wieder hinausgehen, äußerlich unverändert.
Die "Badefrauen" dürften nicht zu jung sein, hatte mir Zdenka Fiedlerová, Physiotherapeutin und ehemalige Bürgermeisterin Jáchymovs, zuvor erklärt. Wegen der Strahlenbelastung, die ja für sie um einiges höher sei als für die Kurgäste. "Immunstimulierend" soll das Bad wirken, Schmerzen gerade bei Rheumapatienten lindern. „Radon wirkt direkt in jeder Zelle", hatte sie auch gesagt, strahlend - man verzeihe mir den Ausdruck. Daran muss ich denken, als ich in die Wanne steige und eine mittelalte Badefrau das Wasser einlässt.
15 Minuten sitze ich bewegungslos, denn so lautete die Anweisung. Das Atmen fällt mir schwer, das Wasser fühlt sich an wie ein Korsett. Ich befürchte einen umgekehrten Placeboeffekt: Ich glaube nicht daran, dass die Behandlung irgendwelche positiven Wirkungen haben könnte, fürchte mich aber vor der Strahlung. Am frühen Abend lege ich mich mit Kopfschmerzen ins Bett.
Da ist mir der Schluck aus einer Heilquelle irgendwie sympathischer. Fünf Quellen entspringen in Marienbad nur wenige Meter voneinander entfernt, trotzdem haben sie ganz unterschiedliche Zusammensetzungen. Salzig rinnt das Wasser der Kreuzquelle über meine verstörten Geschmacksknospen, die auch mit dem metallisch-säuerlichen Aroma der Waldquelle nicht zu versöhnen sind. Mehrmals täglich vor den Mahlzeiten soll eine solche Trinkkur genossen werden. Ich verzichte und sehe mir zu meiner physischen und psychischen Erbauung lieber die Umgebung an: Bepuderte Wälder, auf die eine verschlafene Sonne herabblinzelt und eine hübsche Stadt, die wie von Malerhand hingetupft mittendrin liegt - ein bisschen urlaubig fühlt sich das jetzt schon an.
Berühmte Kurgäste hat es in den vergangenen 200 Jahren hierher verschlagen: Goethe schrieb sogar ein Gedicht mit dem Titel „Marienbader Elegie". Allerdings schwärmt er darin nicht für das malerische Städtchen, sondern klagt in 23 Strophen seinen Kummer über einen abgelehnten Heiratsantrag. Er war 74, die Angebetete 19 - möglicherweise ein Hinweis auf die verjüngenden Kräfte der Quellen. Die Luft soll hier, nebenbei bemerkt, ebenfalls ganz gut sein.
Auch Karlsbad besitzt gesunde Quellen, geschichtsträchtige Gebäude und eine lange Liste prominenter Gäste. Casanova, Dvořák, Chopin - und wieder Goethe. Anders als in Marienbad ist das Wasser hier warm. 72 Grad heiß schießt der sogenannte Sprudel mitten im Zentrum aus dem Boden, und kann in der "Trinkhalle" in verschiedenen Temperaturen gezapft werden. Eine kulinarische Offenbarung ist er nicht, stattdessen verbrenne ich mir die Zunge.
Stolz sind sie hier - auf ihre Vergangenheit (die prunkvollen Gebäude, die berühmten Besucher, die medizinischen Methoden) und auf ihre Gegenwart (die noch immer prunkvollen Gebäude, andere berühmte Besucher, neue medizinische Methoden).
Dass die Geschichte Franzensbads mit einer Rebellion begann, verraten weder die artig angeordneten Häuserzeilen in Gelb- und Ockertönen, noch die Hotels, die irgendwo zwischen ehrwürdig-historisch und niedlich-altbacken rangieren. („Internet auf dem Zimmer? Der Hausmeister bringt Ihnen gleich ein Modem.")
Zurück zur Rebellion: Was heute bis direkt ins Hotel zum kränklichen Kurgast fließt, musste vor 200 Jahren noch mühsam von Hand aus einer Quelle geschöpft werden. Natürlich stiefelte der Herr Doktor dazu nicht höchstselbst quer durchs Moor. Stattdessen ließ er sich von Wasserträgerinnen beliefern. Die Damen waren sehr praktisch veranlagt: Wenn sie schonmal den Weg zur Quelle zurückgelegt hatten, wuschen sie sich auch gleich darin. Das wiederum fand der Arzt recht unhygienisch, weshalb er einen Pavillon errichten und das Wasser in ein separates Becken leiten ließ. Die Trägerinnen, auf diese Weise um Einnahmequelle und Badetag gebracht, sollen mit Pfannen, Kochlöffeln und Schürhaken bewaffnet gewesen sein, als sie das störende Bauwerk wieder abrissen.
Seine wilden Jahre hat das ehemalige Sumpfgebiet hinter sich gelassen: Vor allem die Generation Ü60 lässt sich hier mit Mineralbädern und Moorpackungen von ihren Gebrechen kurieren. Ich bin zwar weder krank noch Ü60, habe gegen eine Moorpackung mit anschließender Massage aber absolut nichts einzuwenden. Hört sich für mich nach purer Entspannung an.
Die Krankenschwester im Ensemble aus kurzem 60er Jahre-Kittelkleid und Söckchen in Gesundheitsschlappen kippt schwarzbraune angewärmte Pampe auf ein bräunliches Laken, verstreicht das Ganze und dirigiert mich mitten hinein. Ich werde fachgerecht in drei Lagen Laken, Wachstuch und Wolldecke verpackt und bekomme einen kühlenden Beutel auf die Herzgegend gelegt. Die Schwester wünscht noch „schöne Packung!" und lässt mich allein. Es gibt auch so etwas wie Entspannungsmusik, die wird jedoch von Gesprächen und Gepolter und Türenknallen auf dem Flur übertönt. Und vom tropfenden Wasserhahn. Wärme strömt durch meine verspannten Muskeln, ich werde träge und müde und dann reißt meine Krankenschwester die Tür auf. „Alles gut, Frau?" Sie wird das in den folgenden 15 Minuten noch dreimal wiederholen, immer, wenn meine Gedanken gerade kurz davor sind, sich im Rhythmus des tropfenden Wasserhahns aufzulösen. Am Ende piept ein Wecker und es fühlt sich an wie Montagmorgen.
Raus aus dem Matsch, runter mit dem Matsch, ab zur Massage. Die Physiotherapeutin hat einen ordentlichen Händedruck, was ich eindeutig als Qualitätsmerkmal werte. Die Kneterei ist angenehm. Einzig diese Öffnung, in die man bei Massageliegen das Gesicht stecken soll, damit man es bequemer hat, lässt mich verzweifeln: Offensichtlich entspricht mein Kopf keiner gängigen europäischen Norm oder aber die Gesichtsquetschung gehört zur Massage dazu.
Ich mache noch die ein oder andere mehr oder minder wohltuende Behandlung mit und laufe noch so manches Mal im Bademantel über Hotelflure. Gewöhnen kann ich mich daran nicht, so richtig entspannen auch nicht. Ich gewinne vielmehr den Eindruck: Gesund zu werden oder auch nur zu bleiben ist Arbeit. Man muss Dinge tun, die man zu Hause niemals machen würde und die einem ohne das Etikett „Kur" vollkommen absurd erscheinen würden. Vielleicht sind manche das auch mit Etikett.