Hubertus Wawra ist seit acht Jahren Weltmeister im Feuerschlucken. Er liebt seinen Job, obwohl er weiß, dass er ihn krank macht
In wenigen Minuten wird sich Hubertus Wawra selbst anzünden. Er ist konzentriert, sein Körper pumpt Adrenalin durch seine Venen. Wenn etwas schiefgeht, könnte er sich lebensgefährlich verletzen. Das weiß er, es ist schon passiert, aber er versucht, das zu verdrängen.
Er hebt eine Plastikflasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit vom Boden auf. Damit benetzt er seine schwarze Lederjacke. Das ist seine geheime Mischung, die Zusammensetzung verrät er nicht. Petroleumöle sind die Grundlage, die brennen gut. Er hat sich oft verbrannt, um die richtige Mischung zu finden. Viele Verletzungen und Narben hat er sich dabei zugezogen. „Mit dem hier brennt mein Feuer gut", sagt er. Nicht zu heiß und nicht zu wenig und es raucht auch nicht zu stark. Mein Feuer, das sagt er oft, es klingt vertraut, fast liebevoll. Hubertus Wawra fühlt sich wohl, wenn es nach Popcorn und Benzin riecht und manchmal noch nach etwas Schweiß. Dann ist er im Zirkus. Hier ist sein Arbeitsplatz. Hubertus Wawra ist 42 Jahre alt und Feuerkünstler im Zirkus Flic Flac. So nennt er sich dort aber nicht, sondern Master of Hellfire. Er trägt Dreitagebart und Irokesenschnitt, am rechten Ohr baumelt ein Ohrring, am linken fünf. Seine Augen betont er mit dunklem Kajal.
Er steht im Backstagebereich und bereitet sich auf seinen nächsten Auftritt vor. Auf einem silbernen Kanister vor ihm am Boden prangt das orangene Gefahrenzeichen mit dem schwarzen Kreuz. Gesundheitsschädlich. Daneben steht ein Behälter mit Siedegrenzbenzin, auch das ist hochgiftig. Er benutzt sie jeden Abend für seine Show. Magnesiumstaub hat er auch noch, seine kleine Bombenwerkstatt nennt er es scherzhaft. Es gibt eine Regelung, wie viel davon dort stehen darf. Aber er weiß, was er tut. Schließlich ist er ausgebildeter Bühnenpyrotechniker. Während er sich umzieht, lugen seine Narben unter seinem Shirt hervor. Auf seiner rechten Schulter ist eine blassrosa Insel, so groß wie eine Handfläche. Zarte, junge Haut, die geschützt werden will, doch gleich wird sie wieder der Hitze ausgesetzt. An Rücken und Armen hat er sehr viele Narben und Schorf, seine Haut ist uneben wie eine Landschaft. Jede Verletzung hat ihre eigene Geschichte, in diesem Beruf hat er schon sein Leben riskiert. Nicht nur einmal.
Winter 2010, Hubertus Wawra ist 36 Jahre alt. Draußen klirrt die Kälte. Damit die Zuschauer in dem schwarz-gelben Zirkuszelt während der Vorstellung nicht frieren, wird eine Heizungsanlage installiert. Die soll warme Luft in den Zuschauerraum pusten. Zuerst ist alles wie immer, Wawra kommt auf die Bühne und spielt auf seiner Gitarre. Dann schnippt er mit seiner linken Hand und seine schwarze Hose soll anfangen zu brennen. Der Stoff ist feuerfest. Doch er merkt, dass etwas nicht stimmt. Das Feuer bewegt sich anders als sonst, die Heizungsanlage bläst es in die falsche Richtung. Seine Baumwollsocken fangen Feuer. Die Flammen kriechen unter seine Hose und versengen ihm die Unterschenkel. Doch Wawra macht weiter. Er tut so, als ob nichts wäre, dabei wird ihm langsam schwindelig und schlecht vor Schmerz. Das Publikum ahnt nichts und lacht und applaudiert, Hubertus Wawra verbrennt unter seiner Hose.
Nach dem Auftritt fährt er sofort in die Notaufnahme. Die Verbrennung hat den schweren Grad 3b, die Haut ist nicht mehr zu retten. Er braucht sofort eine Hauttransplantation. Von der Oberhaut ist nichts mehr übrig, das rohe Fleisch kommt zum Vorschein, das Wundsekret fließt seine Beine hinab. Doch sein Job ist Wawra wichtiger als seine Gesundheit. Er will nicht im Krankenhaus bleiben, er will auftreten. Die Ärzte legen ihm einen Verband aus Algen an, die seine nicht mehr vorhandene Hautschicht ersetzen sollen. Jeden Abend nach der Vorstellung kommt der Arzt und erneuert diesen Verband. Einen Monat lang, jeden Tag. Wawra nimmt starke Schmerzmittel in der Zeit. Doch er ist unvernünftig, tanzt sogar Sirtaki auf der Bühne, wirft die Füße in die Luft. Die Verbände lockern sich, die Suppe aus Sekret und Algen verklebt und ruiniert ihm seine schwarzen Lederschuhe. Erst als die Saison vier Wochen später vorbei ist, lässt er sich in die Klinik einweisen. In einer Operation verschließt fremde Haut endlich seine Wunden.
Die Schuhe aus dieser Zeit hat er noch. Innen sind sie ganz verkrustet, er zieht sie nicht mehr an. Zu Hause im Thüringer Wald stehen sie aber als Andenken in seinem Schuhschrank. Auch das silberne Rohr hat er noch, das ihn fast seinen rechten Zeigefinger gekostet hätte. Er wollte etwas Neues ausprobieren, doch während der Vorbereitung explodiert das Rohr. Sein Finger steckt noch drin und wird 16 Mal gebrochen. Durch die Explosion wird er zurück an die Hand gestaucht und bleibt dran. Der Arzt in dem Bremer Krankenhaus hat ihn noch am Abend vorher live gesehen. Er telefoniert hektisch mit Experten aus der ganzen Welt, sie tauschen Röntgenbilder aus. Hubertus Wawra ist erst 30, ein junger Mann. Man muss ihm doch helfen können. Sie schaffen es, Wawra hat Glück, der Finger bleibt dran. Heute ist er nur leicht in seiner Bewegung eingeschränkt, kann ihn nicht richtig einknicken.
Unaufgeregt und ruhig spricht er darüber in seinem thüringischen Dialekt. Fast schon zu ruhig dafür, dass er leichtsinnig seine Gesundheit riskiert hat. Seine Narben gehören zu ihm. Viel mehr kann er sich über Andrea Berg aufregen: „Also wenn sich zum Beispiel Andrea Berg verbrennt, weil sie so 'nen Scheiß gemacht hat und dann geht das ganz groß durch die Presse: ‚Oh mein Gott, Andrea Berg hat sich verbrannt.' Ich verbrenne mich jeden Tag. Wenn man mit Feuer arbeitet, verbrennt man sich halt. " Die Sängerin hatte sich im Juli 2016 bei einem ihrer Auftritte verletzt.
Er lästert über Stars und ist dabei selbst schon einer. Sein Name steht im „Guinessbuch" neben dem Wort Highspeed-Feuerschlucken. 39 Fackeln in 30 Sekunden, das ist sein Rekord - und der Weltrekord. Er war in China, Japan und England, um seinen Titel zu verteidigen. Beim letzten Mal ist er nach Indien gefahren, ein Guru hatte ihn herausgefordert. In einem Fernsehstudio tritt er gegen ihn an - und gewinnt. Das Publikum applaudiert, doch das bedeutet ihm nichts, er zweifelt: „Wie lächerlich ist es bitte, sich darum zu streiten, wer der bessere Feuerschlucker ist? Aber Menschen machen das und das verkauft sich gut und deshalb macht man da mit und ist eben die Hure im System."
Er ist viel unterwegs, doch trotzdem geht er regelmäßig zu Ärzten. Um seine Gesundheit macht er sich Gedanken. Er sagt, er habe oft ein schlechtes Gewissen. Schließlich weiß er, womit er da jeden Tag arbeitet, er setzt sich freiwillig der ganzen Chemie aus. Er geht regelmäßig zu einer Lungenvorsorgeuntersuchung. Dann muss er kräftig pusten und sein Arzt kann sehen, ob alles noch gut funktioniert. Dann piekst es kurz, und sie nehmen ihm Blut ab, um zu schauen, ob er noch reichlich mit Sauerstoff versorgt wird. Hubertus Wawra sagt dem Arzt, dass er nach Lungenkrebs und anderen Lungenkrankheiten gucken soll. Er geht auch oft zum Zahnarzt, weil er Angst hat, Zahnausfall zu bekommen. Schließlich nimmt er jeden Tag hochgiftige Kohlenwasserstoffmonoxide in den Mund.
Doch Hubertus Wawra liebt seinen Beruf und vor allem das Feuer. Er hat sogar eine Lieblingsflamme: Wenn er eine Fackel in seinen Mund steckt und ihr den Sauerstoff ganz langsam entzieht, dann wird die Flamme blau. Das gelingt nur jemandem, der einen ruhigen und entspannten Atem hat. Eine blaue Flamme aus seinem Mund, das macht ihn glücklich. Feuer brennt nicht einfach nur für ihn, es wärmt ihn auch, er findet es schön anzusehen.
Schon früher in der Schule hat er lieber dem knisternden Feuer im Ofen gelauscht als dem Lehrer. Als Achtjähriger hat er abends immer eine Fernsehsendung mit seinem älteren Bruder geguckt. „Ein Colt für alle Fälle", das kam direkt nach dem „Sandmännchen". Dann musste er ins Bett. Er sagt, dass das wie ein Vorgänger von „Alarm für Cobra 11" gewesen sei. Die brennenden Autos auf dem Bildschirm im Wohnzimmer faszinieren ihn. Und während seine Eltern noch arbeiten sind, macht er das nach. Er holt die Kiste mit seinen Matchbox-Autos aus seinem Kinderzimmer und geht nach draußen. Er weiß genau, wo der Kanister mit dem Benzin steht, in welchem Schuppen, schließlich wächst er auf einem Bauernhof auf. Er nimmt den Behälter und geht in einen nahe gelegenen Steinbruch. Dort kann er nicht aus Versehen die Umgebung mitanzünden. Er tunkt seine Spielzeugautos in das Benzin ein, steckt sie mit den Streichhölzern seiner Mutter an und sieht ihnen dabei zu, wie sie brennen. Dabei versengt er sich seine Augenbrauen, daran haben seine Eltern gemerkt, wenn er mit dem Feuer gespielt hat. Dann gab es Schläge, erzählt er. Er hat es trotzdem immer wieder gemacht.
Noch heute hat er gerne einen Ofen an, wenn er zu Hause ist. Feuer ist für ihn mehr als nur ein brennendes Element. Manchmal macht er sich auch abends den Fernseher an und schaut Feuer-TV. Es beruhigt ihn, dieses Knistern, diese Farbe. Doch er weiß auch, dass es ihn eines Tages umbringen kann.
Neulich hat er etwas entdeckt, das ihn beunruhigt. Eine Stelle an seinem linken Arm, die jeden Tag heiß wird. Er hat dort einen Huckel und macht sich Gedanken. Er weiß, dass Frauen zuerst einen Knoten spüren, wenn sie Brustkrebs haben. „Jetzt bin ich ja auch noch Raucher", sagt er. Eine Packung am Tag. „Es könnte ja sonst was sein." Aber schon im nächsten Satz versucht er, sich selbst zu beruhigen. Das sei sicher nur Hornhaut. „Ich hab keine Angst", sagt er immer wieder. Ein bisschen zu oft, als müsste er sich das einreden. Er zitiert Frank Herbert aus dem Film „Dune": „Fear is the mind-killer, the little death." Er will zum Hautarzt gehen, wenn er das nächste Mal länger in einer Stadt ist und ein Arzt ihm einen Termin gibt. Er hält das erst mal für unwahrscheinlich.
Aus der Zirkuswelt kann er ja nicht so einfach weg. Nicht für kurz und länger erst recht nicht: „Was soll ich denn sonst machen? Soll ich nur noch samstags auftreten oder nur noch mittwochs? Das geht nicht." Auch seine Freunde sind alle im Zirkus. „Und demzufolge: einmal Zirkus, immer Zirkus."
Hubertus Wawra geht auf die Bühne, energisch setzt er einen Fuß vor den anderen. In seiner Hosentasche tastet er nach seinem Zippo, ob es noch da ist. Wenn er von seinem Feuerzeug spricht, klingt das so, als ob es lebendig wäre. „Auf mein pinkes Zippo kann ich mich hundertprozentig verlassen", sagt er. „Darauf würde ich meinen Arsch verwetten." Für andere mag das vielleicht ein alltäglicher Gegenstand sein, für ihn nicht. Ohne dieses Feuerzeug tritt Wawra nicht auf.
Die Bühne ist in ein helles Licht getaucht, für ein paar Minuten sehen alle nur ihn an. Er trägt seine schwarze Lederjacke und sieht damit ein bisschen aus wie ein Rockstar, irgendwie verwegen. „Ich bin der Master of Hellfire", singt er. Dann unterbricht er sein Spiel kurz und schnipst mit dem Finger. Plötzlich fängt seine Lederjacke Feuer. Das Publikum klatscht und lacht, Hubertus Wawra brennt.
Noch bis 19. Februar spielt der Zirkus Flic Flac in Berlin am Bahnhof Zoo