- Miss Mary Bobo. Die Herren Bateman, Burns und Branch. Oder Randy Baxter. Man kann jeden von ihnen nehmen. Jeder kennt sie, hat schon irgendwann, irgendwo ein Bild von ihnen gesehen. Die Werbekampagnen mit ihnen lief über Jahrzehnte.
Miss Mary, eine sehr alte Frau, sitzt auf einem Stuhl vor einem weißen Haus mit Veranda und Säulenportal, unverkennbar in den Südstaaten, unverkennbar aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Text: "Miss Mary Bobo ist die speziellste Person in Lynchburg; im Juli hat sie Geburtstag ... Wenn Sie möchten, schicken Sie doch eine Postkarte."
Die Herren Bateman, Burns und Branch sitzen und stehen in einem alten Lagerhaus. Sie tragen Mützen und Latzhosen, die Hemdsärmel sind aufgekrempelt. Über sie schrieben die Werber: "Bateman, Burns und Branch - das klingt nach Rechtsanwälten in Philadelphia, tatsächlich sind sie Köhler aus Tennessee."
Baxter schließlich, ein Mann von imposanter Körperfülle, Bart im runden Gesicht, hat die Arme verschränkt, lächelt, dahinter Schemen von fröhlichen Zuhörern. Über ihn heißt es: "Wohin er geht, folgen sie. Wenn er spricht, hören sie zu. Wenn er Witze macht, lachen sie. Er ist ,Goose'." Gans ist Baxters Spitzname.
Drei Bilder, fünf Gesichter. Sie stehen für zufriedene Menschen und eine heile Welt, die sich niemals ändern wird. Und sie stehen für die Marke Jack Daniel's Old Time Old No. 7 Brand Quality Tennessee Sour Mash Whiskey, wie es sperrig in Weiß auf Schwarz auf den Etiketten der kantigen Flaschen mit geriffeltem Hals steht. Chris Sheedy und Jenny Bond haben die Marke in ihr Buch "100 Great Icons" aufgenommen und dabei auf eine Stufe gestellt mit Tiffany & Co., Chanel No. 5 und Rolls-Royce.
Jack Daniel's oder Old No. 7, wie er von Liebhabern genannt wird, ist der berühmteste und meistverkaufte Whiskey der Welt. 2011 verließen zehn Millionen Kisten, 90 Millionen Liter, den Hof der Destillerie in Tennessee. Vier Prozent mehr als im Jahr zuvor; in den vergangenen zehn Jahren wurde der Umsatz fast verdoppelt. Jack Daniel's ist damit die erfolgreichste Marke der Brown-Forman Corporation, einem der zehn größten Spirituosenhersteller der Welt, der auch Southern Comfort, Woodford Reserve Bourbon, Finlandia Wodka oder Herradura Tequila produziert. 4000 Mitarbeiter. 3,4 Milliarden Dollar Umsatz; ein Drittel davon wird mit dem Label Jack Daniel's erwirtschaftet, überwiegend mit Old No. 7.
"Man sucht ja gern nach rationalen Erklärungen beim Konsumenten", sagt John Hayes, "und eine rationale Erklärung wäre der Geschmack." Hayes ist bei Brown-Forman zuständig für globale Strategie und Marketing. Den Geschmack von Old No. 7 erklärt er mit einem Verfahren, das sich Charcoal Mellowing nennt. Es handelt sich um eine Prozedur, bei der Rohwhiskey über Holzkohle gefiltert wird, bevor er in Fässer gefüllt und gelagert wird. "Durchaus gewöhnungsbedürftig", sagt Hayes: "Wer Jack Daniel's zum ersten Mal probiert, könnte sich schon denken: 'Oh, mein Gott, was ist denn das?'" Umso erstaunlicher, dass Jack Daniel's sich in 135 Ländern verkauft und dass Hayes sagt: "Wir haben alle, vom Biker bis zum Banker, alle Altersklassen, wir nennen das gern 'from LDA to NDD'." LDA steht für Legal Drinking Age, NDD für Near Damn Dead.
Man könnte nun argumentieren, es gebe bessere Whiskeys.
Oder vergleichbare Qualität für weniger Geld. Doch Schnaps ist nicht nur Schnaps. "Es ist eher wie bei Autos", sagt Hayes. "Sie kaufen sich Ihren Wagen auch nicht wegen des Fahrkomforts und weil da ein Stern auf der Motorhaube ist." Soll heißen: Die Geschichte hinter dem Produkt ist so wichtig wie das Produkt selbst. Das gilt auch für Scotch und Single Malt; auch deren Marketing lebt von altem Gemäuer und Torfwiesen, und es gilt ebenso für französischen Cognac, russischen Wodka oder deutschen Weinbrand. Ohne Geschichte kommt keiner aus. "Und wir", sagt Hayes, "haben eine einmalige Geschichte. Hinter der Marke steht ein Mann, den es wirklich gegeben hat, eine echte Stadt, echte Menschen." Die Marke sagt: "Ich bin authentisch." Ergo: "Du trinkst Jack Daniel's - du bist authentisch."
Tennessee, auf der Route 55. Dunkle Wälder, weiße Farmhäuser, auf den Weiden gefleckte Kühe. Bis es auf einmal nach süßlichem Moder und verbranntem Holz riecht und ein Hauch von Alkohol in der Luft liegt. Kantige Lagerhäuser tauchen auf, turmhohe Silos, dann ein rotes Schild: "Historic Lynchburg, Pop. 361." Und schon begegnet dem Besucher, was er aus der Werbung kennt. Eine Kleinstadt mit quadratischem Platz im Zentrum. Das Gericht in der Mitte. Ein Werkzeugladen gegenüber. Eine Kreuzung, eine Ampel, vor den Cafés und Steakhäusern stehen Schaukelstühle. Die örtliche Zeitung heißt "Moore County News", benannt nach dem Landkreis. Meldungen über Hausverkäufe und Verhaftungen. Todesanzeigen. Farmer Moorehead schreibt in seiner Kolumne über Schimmelbefall an Bäumen und Wurmbehandlung bei Rindern. Der Spruch der Woche kommt von der Talkshow-Königin Oprah Winfrey: "Wenn es sich nicht gut anfühlt - mach's nicht."
Wer Lynchburg hört, denkt an Jack Daniel's. Und umgekehrt. Hayes sagt, er sei stolz, dass sie damals für ihre Werbung nie Schauspieler eingesetzt hätten, sondern ausschließlich Bewohner von Lynchburg und Mitarbeiter der Destillerie. Normale Menschen. Doch gerade das ist die Botschaft. Die, wenn es nach Paul Nelson geht, wichtiger ist denn je. "Amerika lebt in der Ära von Wal-Mart", sagt er. "Es gibt keinen visuellen, sinnlichen Reichtum mehr, keine Authentizität in Produkten, nur noch billige Duplikate von Dingen, die keiner braucht." Nelson ist bei der Werbeagentur Arnold Worldwide in Boston für Jack Daniel's zuständig. "Lynchburg", sagt er, "steht für ein anderes Amerika, in dem man seine Nachbarn noch kannte, ihnen einen guten Tag wünschte und sich Zeit nahm, die Dinge richtig zu machen." Alte Werte, harte Arbeit, eine große Familie. Nelson: "Wir sagen: Jack Daniel's ist geblieben, was es immer war." Good Old America in einer Flasche.
Jeff Arnett steht vor einer Kalksteinhöhle, aus der Wasser läuft. 3000 Liter pro Minute. Gleichbleibend 13 Grad Celsius. Reich an Mineralien, praktisch frei von Eisen. Mit der Quelle hat alles angefangen. Ohne die Quelle hätte es den Whiskey nicht gegeben, sagt Arnett: "Guter Whiskey fängt mit gutem Wasser an." Arnett ist der siebte Master Distiller von Jack Daniel's. Der erste Brennmeister war der Mann, der der Marke seinen Namen gab. Vor der Höhle steht sein Denkmal aus Bronze. Eine kleine Figur mit Frack, den Hut lässig ans angewinkelte Knie gelegt. Wenn Arnett von ihm spricht, nennt er ihn Mister Jack oder Uncle Jack. Um Mister Jacks Erbe, sagt er, gehe es "allen hier". Nebenan, in einer Holzhütte, steht Daniels Schreibtisch und der Tresor, der eine tragische Rolle in seinem Leben spielte. An der Wand ein gerahmter Schriftzug: Every day we make it, we'll make it the best we can. Das, sagt Arnett, gelte bis heute.
Die wahre Geschichte? Keiner kennt sie genauEs klingt wie eine Reklame. Der ganze Mann ist eine Reklame. Groß, breites Kreuz, Oberlippen- und Kinnbart. Wie man sich jemanden vorstellt, der Old No. 7 trinkt. Arnetts erster alkoholischer Drink als junger Mann? Jack Daniel's mit Coca-Cola, besser bekannt unter Jack and Coke. Arnett mag Football, Lieblingsverein Dallas Cowboys. Er hört gern Südstaatenrock, Lynyrd Skynyrd, solche Sachen. Hobby? Oldtimer restaurieren, vorzugsweise Modelle von Ford. Camaro, Mustang, die Klassiker. Zur Arbeit kommt er in einem dröhnenden Truck von Chevrolet, die Sitze bezogen mit Sattelleder. Nelson Eddy, der Historiker von Jack Daniel's, sagt, wenn Drehbuchschreiber in Hollywood einem Charakter die Aura von Männlichkeit verleihen wollen, "dann geben sie ihm eine Flasche Jack Daniel's in die Hand". Hayes sagt: "Wer Jack Daniel's trinkt, ist ein Mann, der tut, was ein Mann tun muss - wie Jack Daniel."
Wann genau der nach Lynchburg kommt, ist nicht belegt. Bei der Jack Daniel Distillery, Lem Motlow, Proprietor, wie das Unternehmen offiziell heißt, haben sie sich auf das Geburtsjahr 1846 festgelegt und auf folgende Story: zehntes Kind einer verarmten Familie, verliert seine Mutter mit zwei; reißt von zu Hause aus mit sechs; lebt fortan bei einem Prediger, der einen Gemischtwarenladen führt und Schnaps brennt; mit 13 übernimmt Daniel dessen Brennerei, die er 1866 registrieren lässt, was sie angeblich zu Amerikas ältester eingetragener Whiskeydestillerie macht. Wenngleich es Hinweise gibt, dass die Destillerie tatsächlich nicht vor 1875 gegründet wurde. Aber soll nicht Daniel einmal gesagt haben: "Eine Unwahrheit sollte einer guten Geschichte nicht im Weg stehen"?
Jasper Newton Daniel. 1,56 Meter, Schuhgröße 35 1/2. Das jedenfalls will Historiker Eddy herausgefunden haben. Und dass er ein Kauz, ein Tüftler, ein Dandy war, vor allem ein begnadeter Verkäufer. Womit sich etwa erklären ließe, warum Daniel seinem Whiskey einen derart skurrilen Namen gab. Allein darüber, was die Zahl in Old No. 7 bedeutet, gibt es endlose Spekulationen. Weil Daniel, der nie heiratete und kinderlos blieb, sieben Freundinnen hatte? Weil die Lokomotiven der Güterzüge, mit denen der Schnaps abtransportiert wurde, diese Nummer trugen? Weil das J in seiner Signatur aussah wie eine 7? Auch dieses Rätsel hat Jack Daniel's in Werbebotschaften verarbeitet. "Vielleicht", so Arnett, "war es einfach nur der siebte Versuch, mit dem er das Rezept für seinen Whiskey fand. Die Wahrheit hat er mit ins Grab genommen."
Überall in Tennessee wird zu Daniels Zeit Whiskey produziert. Doch Daniel gelingt es schnell, um sein Produkt eine Aura von Exklusivität aufzubauen. Der Name. Das schwarze Etitkett. Daniel lässt den Whiskey nicht in Tonkrügen, sondern in Flaschen abfüllen, die aufgrund ihrer Form besser zu stapeln und sicherer zu transportieren sind. Alles noch nicht da gewesen. Um die Qualität zu verbessern, lässt er die Holzkohle beim Charcoal Mellowing häufiger wechseln als die Konkurrenz. 1904 gewinnt Old No. 7 bei der Weltausstellung eine Goldmedaille. 1911 stirbt Daniel. Für seinen Neffen Lem Motlow, der die Brennerei übernimmt, beginnen schwierige Zeiten. Von 1920 bis 1933 herrscht in den Vereinigten Staaten Prohibition. Von 1942 an müssen Destillerien Ethanol für die US Army produzieren. Erst 1947 wird in Lynchburg wieder dauerhaft Whiskey gebrannt.
Bis hierher hat die Marke allein dank Mundpropaganda überlebt. Als sie Anfang der fünfziger Jahre wieder auf den Markt kommt, gilt sie in Amerika als kostbare Rarität. Was auch an ihren prominenten Liebhabern liegt. Winston Churchill. Der Schriftsteller William Faulkner. Frank Sinatra, die Schauspieler Humphrey Bogart und Jackie Gleason. Sinatra nennt Old No. 7 "Nektar der Götter". Die Nachfrage explodiert. Doch die Destillerie ist klein. Und: Amerikanischer Whiskey reift - wie auch Bourbon - mindestens vier Jahre in inwendig ausgebrannten Fässern aus Weißeiche, die dem Destillat Farbe und Aroma verleihen. Jack Daniel's kann nicht genug liefern, schreibt den Händlern Abnahmemengen vor.
So entsteht der Mythos. Die kleine, heile Welt. Anständige Menschen, die unabhängig von gesellschaftlichem Wandel und Zeitgeist ihren Weg gehen. Es ist eine geniale Masche, die Brown-Forman, das Jack Daniel's 1956 kauft, konsequent weiterentwickelt. "Wenn man sich die Spirituosenwerbung der damaligen Zeit anschaut", sagt Eddy, "sieht man ganzseitige kolorierte Anzeigen, große schöne Flaschen, Männer im Smoking, teure Autos, irgendetwas, das Luxus ausdrückt." Jack Daniel's sagt das Gegenteil. Und spricht damit, wie Eddy glaubt, "universelle Werte" an. Was ganz im Sinne von Brown-Forman ist, das große Teile der alten Destillerie abreißen lässt, eine neue Anlage baut und international expandiert. Wieder begleitet von massiver Werbung. Eddy erzählt: "Als Jack Daniel's Old No. 7 mit seinen SchwarzWeiß-Bildern aus Lynchburg in Großbritannien eingeführt wird, heißt es, das funktioniere in den USA, aber nicht hier." Doch es funktioniert. Von 1973 bis 1986 verdreifachen sich die Verkäufe. Großbritannien ist da schon der zweitgrößte Markt für Old No. 7.
Mit Arnett durch die Destillerie. Von der Höhle über das Büro rüber zum Rickyard, wo unter einem eisernen Baldachin Zuckerahorn verbrannt wird, der beim Charcoal Mellowing zum Einsatz kommt. Arnett spricht von Mister Jacks Grain Bill, der sogenannten Getreiderechnung: 80 Prozent Mais, zwölf Prozent Gerstenmalz, acht Prozent Roggen, Hefe steuert die Fermentierung. Werde noch heute so gemacht. Danach Mittagessen in Miss Mary Bobo's Boarding House, zwei Häuserblocks hinter dem Town Square, einer ehemaligen Pension, die von der Destillerie als Restaurant betrieben wird.
Dort steht Lynn Tolley im Foyer, begrüßt die Gäste und erzählt Geschichten. Tolleys Großmutter war eine Schwester von Jack Daniel. Die Geschichten sind niedlich. Dass Miss Mary nicht kochen konnte, "nicht mal Kaffee", aber eine glänzende Unterhalterin gewesen sei. Dass sie auf die Zeitungsannonce zu ihrem Geburtstag 40 000 Zuschriften erhielt. Gestorben sei sie einen Monat vor ihrem 102. Geburtstag.
Romantik war gestern250 000 Menschen kommen jährlich nach Lynchburg auf der Suche nach dem Mythos. Doch was sie sehen, ist nicht mehr Mister Jacks Destillerie. Gebrannt wird in 13 Meter hohen Kupferkesseln. Der Brennvorgang wird auf zwölf Bildschirmen überwacht. 7000 Kontrollpunkte. In den angrenzenden Hallen gären jeweils 150 000 Liter Maische in 64 gewaltigen Bottichen; für das Charcoal Mellowing gibt es 72 drei Meter hohe Container. Alles voll automatisiert.
Arnett: "Um die Produktion am Laufen zu halten, bräuchte man nur eine Handvoll Leute." Die meisten der 400 Angestellten arbeiten in der Abfüllanlage, in der Verpackung, im Transport. Im Viertelstundentakt fahren schwarze Sattelschlepper vor. Die alten Lastwagen aus der Reklame gibt es schon lange nicht mehr, das Lagerhaus mit 6059 Fässern, das Besucher zu sehen bekommen, gaukelt eine Romantik vor, die die wahren Dimensionen kaschiert. Bis zu 20 Millionen Fässer liegen in 79 Lagerhäusern in den Wäldern rund um Lynchburg.
In der Abfüllanlage ein glatzköpfiger Mann mit Brille. "Whiskey zu machen", sagt Kevin Smith, "ist einfach. Die Herausforderung ist, bei den Mengen, die wir produzieren, Qualität und Konsistenz zu gewährleisten." Smith ist Mikrobiologe. Mit Geschichten über Mister Jack hält er sich nicht auf. Smith spricht von Molekülstrukturen, pH-Werten und Bakterienkontrolle bei der Fermentierung; von der Eliminierung von 3-Methyl-1-butanol, Isoamylalkohol, einem Bestandteil des Fuselöls, dem eine karzinogene Wirkung nachgesagt wird: "Das sind die Dinge, die uns interessieren."
Wie auch die Maximierung des Ertrags. Smith: "Wir erzielen im Schnitt 5,45 Gallonen Whiskey pro Bushel eingesetztes Getreide, die Branche liegt im Schnitt bei 5,1 Gallonen - hier haben wir Maßstäbe gesetzt, hier fängt der Profit des Unternehmens an." Bevor er nach Lynchburg kam, hat er für einen Ethanolhersteller in Iowa gearbeitet. Smith scherzt: "Wir sind nahe an dem, was die Benzinindustrie macht. Der Unterschied: Die verbrennen die Reste, wir trinken das Beste."
Image und Realität. Die kleine, heile Welt und das Massenprodukt. Passt das noch zusammen? Der Brennmeister Arnett ist Industrie-Ingenieur, hätte als junger Mann am liebsten "Autos gebaut" und war, bevor er zu Jack Daniel's kam, beim Mischkonzern Procter & Gamble in der Qualitätskontrolle für Kaffee und Fruchtsaft tätig. Kritiker monieren schon länger, dass das Mantra von der Authentizität des Unternehmens längst überholt sei. 2004 setzte Jack Daniel's den Alkoholgehalt seines Old No. 7 (laut Website der "althergebrachte Whiskey, wie ihn unsere Väter machten") von 43 auf 40 Prozent herab. Brown-Forman rechtfertigte das mit veränderten Trinkgewohnheiten. Das "Modern Drunkard Magazine" schrieb: "Dieser historische Schnaps, diese Ikone der Trinker überall auf der Welt, ist nicht mehr als ein Produkt der Gnade eines zynischen Unternehmens und seiner letzten Marktanalyse."
Old No. 7, den es in diversen Sonderabfüllungen gibt, ist zudem längst kein Synonym mehr für Jack Daniel's. 1988 wurde Gentleman Jack eingeführt, dessen Destillat zweimal über Holzkohle gefiltert wird, 1997 Jack Daniel's Single Barrel, eine Edition von jeweils 240 Flaschen, die einem einzigen Fass entnommen werden. Hinzu kommen Mixgetränke wie Jack and Coke und aromatisierte Produkte wie Winter Jack Tennessee Apple Whiskey Punch oder neuerdings Jack Daniel's Tennessee Honey, 35 Prozent Alkohol, der beworben wird mit dem Slogan "Ein bisschen Honey, ganz viel Jack". Als Brown-Formans Umsatz im zweiten Quartal 2011 um zwölf Prozent stieg, wurde das mit brillanten Verkaufszahlen von Jack Daniel's Honey begründet.
3,8 Milliarden Dollar haben amerikanische Hersteller von Whiskey und Bourbon im vergangenen Jahr umgesetzt, zunehmend mit aromatisierten Produkten, deren Zuwachsrate gegenüber 2010 bei 136 Prozent lag. Tennessee Whiskey und Bourbon kommen außerhalb der USA gut an, vor allem in China und Indien, wo die Spirituosen als Verkörperung Amerikas angesehen werden. "Wenn sich diese Märkte entwickeln", sagt Charles Cowdery, der ein Buch über amerikanischen Whiskey geschrieben hat, "werden alle zu wenig produziert haben."
Jack Daniel's ist in diesem Segment zwar weiter Marktführer, nicht zuletzt wegen Old No. 7, doch die Konkurrenz ist stark. Die von Jim Beam etwa von Beam Inc., dessen Geschichte angeblich bis 1795 zurückreicht. Beheimatet in Bourbon County, Kentucky, der der Spirituose, die bis auf das Charcoal Mellowing quasi identisch ist mit Tennessee Whiskey, den Namen gab. Weitere Wettbewerber sind Evan Williams von Heaven Hill Distilleries und Maker's Mark, das ebenfalls von Beam Inc. hergestellt wird - sie alle kämpfen mit sozialen Medien wie Facebook sowie Twitter und PR-Gimmicks aller Art aggressiv um Absatzmärkte. Als Jim Beam eine Million Fans auf Facebook hatte, ließ sich deren Brennmeister, Frederick Booker Noe III, das Firmenlogo tätowieren. Die "New York Times" schreibt, die meisten Brennmeister im Geschäft seien mittlerweile "ein Teil Wissenschaftler, ein Teil Historiker, ein Teil Showman".
"Du brauchst ein Produkt, das die Leute mögen", sagt Paul Nelson von Arnold Worldwide, zu dessen Kunden auch McDonald's, Nestlé, Panasonic, Dell Computer oder Lee Jeans gehören. "Aber auch das Marketing muss die Konsumenten erreichen. Die Kombination ist entscheidend." Paul Nelson lässt offen, ob das der Grund ist, weshalb Jack Daniel's schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit Lynchburg und dessen vermeintlich heiler Welt wirbt. Stattdessen mit rockiger Musik, gemeinsamen Aktionen mit dem Motorradhersteller Harley-Davidson und natürlich mit Schauspielern. Zuletzt gab es eine Posterserie, die, so Nelson, "den amerikanischen Geist zelebriert". Ein Slogan: "56 Männer unterzeichneten die Unabhängigkeitserklärung, ein Mann setzte sie auf eine Flasche." Ein anderer: "Lebe frei, trinke vernünftig." Oder: " Jeder Mensch wird gleich geboren. Was er von da an macht, hängt von ihm ab."
Unabhängigkeit. Freiheit. Selbstverwirklichung. Weil das letztendlich inzwischen doch besser in die moderne Welt, in den Zeitgeist passt als die vermeintliche Idylle von Lynchburg (Tennessee) mit seinen netten Menschen? Oder weil man das auch in Asien versteht? Paul Nelson sagt: "Werbung muss heutzutage mehr aktuelle Entwicklungen abbilden, es muss heute keine Story über Lynchburg mehr sein, zumal Jack Daniel's und Lynchburg schon im Bewusstsein der Menschen verankert sind."
Miss Mary Bobo ist tot. Die Herren Bateman, Burns und Branch sind pensioniert. Nur Randy "Goose" Baxter ist noch da. Man trifft ihn im Foyer des Besucherzentrums der Destillerie. Da hängen sie noch, die Schwarz-Weiß-Fotos, gerahmt wie in einem Museum. Dazu der Nachbau des White Rabbit Saloon, den Jack Daniel angeblich betrieben haben soll. Und noch ein Denkmal des Firmengründers, diesmal aus Marmor. Hier beginnt der Rundgang mit Goose als Touristenführer. Er ist noch fülliger als auf den alten Bildern. Unter einem beigefarbenen Hut ein Kopf ohne Kinn und Hals. Mindestens drei Zentner schaukeln in seiner Latzhose.
Zur Höhle. Zum Rickyard. Wieder die Geschichte von Mister Jack, zu der auch Gooses Lieblingswitz gehört. Er erzählt ihn in seinem alten Büro. Jack Daniel starb an den Folgen einer Blutvergiftung. Er hatte im Zorn seinen Tresor getreten und sich dabei einen Zeh gebrochen. Goose sagt: "Arme Leute treten Eimer, reiche Leute treten Tresore." Die Leute lachen. Goose sagt: "Ach, wissen Sie, mag schon sein, dass die Welt sich ändert, auch in Lynchburg, ich weiß nur eines: Egal, was passiert, diese Geschichte wird nie sterben." -