-"Kaufe kein Essen im Zug. Nimm nichts von anderen Passagieren. Wasche Obst nie in der Toilette, hast du gehört?" Sie stand vor ihm, schwarze Djellaba, die Augen verweint, nervöser als sonst. "Kette deine Tasche an die Drahtseile unter dem Sitz. Du weißt, dass sie deinem Onkel das Gepäck gestohlen haben, als er zur Hochzeit seines Neffen nach Ahmedabad fuhr." Er hat ihre Stimme noch im Ohr, den Duft ihres Haares in der Nase beim Abschiedskuss. "Gib Acht, mein Junge, Allah sei mit dir."
Sieben Uhr morgens. Aamir Siddiqui steht an Gleis 9, New Delhi Railway Station. Gleich soll Zug Nummer 2904 einfahren, der Golden Temple Mail. Es ist der Zug, auf den Aamir wartet. Eine Woche war er bei seiner Familie in Meerut. Seine Großmutter war gestorben. Jetzt fährt er zurück nach Pune, wo er studiert. Die Reisenden drängen sich über den Bahnsteig. Bunte Saris leuchten in der Morgensonne. Kleine Männer mit aufgekrempelten Hosenbeinen schieben barfuß Karren mit Koffern, Paketen, Säcken. Ein Junge verkauft glasiertes Gebäck. Die Luft ist schon warm und schwer. Es riecht nach Kot und Schmierfett. Lautsprecherdurchsage: Zug Nummer 2904 hat eine halbe Stunde Verspätung. Any Inconvenience is deeply regretted. Aamir lacht: "Der Golden Temple Mail hat immer Verspätung."
Der Golden Temple Mail ist der Nachfolger des Frontier Mail, einer der "berühmtesten Expresszüge des britischen Empire", wie die "Times" 1930 schrieb, wohl deshalb bekam er 1934 als einer der ersten Züge eine Klimaanlage. Als Hindustan noch britische Kolonie und nicht geteilt war, verkehrte der Frontier Mail zwischen Peschawar und Bombay. Der Golden Temple Mail verbindet heute Amritsar und Mumbai, wie Bombay inzwischen heißt; einer von rund 9000 Passagierzügen, die täglich in Indien verkehren und etwa 17 Millionen Fahrgäste befördern, was sich im Ende März abgelaufenen Geschäftsjahr auf mehr als sechs Milliarden summierte. Fast so viele, wie es Menschen gibt auf der Welt. Hinzu kommen mindestens 9000 Güterzüge, die täglich zwei Millionen Tonnen Waren transportieren, 40 Prozent der Fracht, die in Indien bewegt wird. Man könne, hatte Satish M. Vaish am Abend zuvor gesagt, Indian Railways nicht erfassen: "Wir sprechen über ein Imperium, ein Monsterchaos und ein Wunder."
Imperium ist klar: 17 Regionalgesellschaften, 63 000 Kilometer Gleise, 8000 Bahnstationen. Die Eisenbahn beschäftigt offiziell 1,4 Millionen Menschen, versorgt eine Million Pensionäre. Nach Chinas Volksbefreiungsarmee soll sie einer der größten Arbeitgeber der Welt sein, sogar ein eigenes Ministerium hat sie. Die Präsentation des Jahresbudgets erregt mindestens so viel Aufmerksamkeit wie die Haushaltsdebatte im Parlament. Wer sechs Monate für Bharatiya Rel, wie sie in Hindi heißt, gearbeitet hat, so sagen die, die dort arbeiten, der bleibe ein ganzes Leben. Vielleicht tragen die Züge deshalb so stolze Namen. Deccan Odyssey. Bangalore Rajdhani. Grand Trunk Express. Der Himsagar Express startet in Jammu Tawi, unweit der verschneiten Ausläufer des Himalaja, und endet am Kap Komorin, in Kanniyakumari, der südlichsten Stadt Indiens. 3751 Kilometer in 73 Stunden. Laut Fahrplan. Manchmal dauert der Trip fünfeinhalb Tage.
Monsterchaos, weil Indian Railways noch immer auf vier Spurbreiten operiert. Bei Personenzügen gibt es die Kategorien "Passenger", "Ordinary", "Express" und "Fast Passenger", es gibt "Mail/ Express" "Premium" und "Premium Special". Man reist in sieben Klassen. Von "1st AC" mit Klimaanlage bis "General" mit Holzbänken. Reservierungspflichtige Züge sind ab Freigabe in aller Regel binnen einer halben Stunde ausverkauft. Für nicht reservierungspflichtige Züge steht man besser drei Stunden vor Abfahrt am Fahrkartenschalter. Kaum eine Woche ohne Entgleisungen, Zusammenstöße, Tote. Allein in Mumbai sterben jährlich 4000 Menschen, die von Vorortzügen überrollt werden.
Zugfahren in Indien ist eine Mischung aus Abenteuer, Unwägbarkeit und Überraschung. Züge sind nicht selten Ziel von Terroranschlägen. Bei Streiks gehört die Demontage von Schienen quasi zum Standardprogramm. Dazu Überschwemmungen durch Monsun. Heilige Kühe, die Bahnübergänge blockieren. Schlangenbeschwörer, die Passagiere erpressen. Täglich versagen Tausende von Signalen und Weichen. In den Bahnhöfen stauen sich die Güterzüge, während die Stationswärter mit roten und grünen Flaggen die Durchfahrt regeln. "Viele Menschen, viel manuelle Arbeit", hatte Vaish gesagt, "das bedeutet viele Fehler." Lokomotivführer lernen während ihrer Ausbildung zuerst die 47 häufigsten Ursachen für Defekte. Danach lernen sie, sie selbst zu reparieren.
Indien ist ein Wirrwarr aus Kasten, Sekten, Ethnien - und alle nehmen den ZugSo überrascht es kaum, dass die Eisenbahn gern als "das Fenster Indiens" ("Süddeutsche Zeitung") bezeichnet wird. Man schaut hinaus auf Land und Leute und hinein in den Mikrokosmos des Subkontinents. In jedem Zug spiegelt sich der Alltag des Landes, ein Wirrwarr aus Ethnien, Kasten und Sekten, wider. Indien, das sind mehr als 20 offizielle Sprachen, das ist der Geburts ort von vier Weltreligionen, ein soziales Panoptikum. Viele Millionen hinduistische Götter. 300 Arten, Kartoffeln zu kochen. Mehr als 700 politische Parteien. Und über allem das klebrige, verfilzte Netzwerk, das Mark Tully, der mehr als 20 Jahre Korrespondent der BBC in Indien war, "Neta-Babu-Raj" nennt. Einst regierte der britische Raj. Heute herrschen Politiker (Netas) und Bürokraten (Babus), und Tully schreibt: "Korruption und chronische Ineffizienz sind zwei Nebenprodukte des Neta-Babu-Raj." In so einem Land kann keine Eisenbahn funktionieren. Dass sie es tut, ist das Wunder.
Der Golden Temple Mail kommt kurz vor acht Uhr. Aamirs Platz ist in Waggon 11, Sitz 17. Laut Buchungsklasse RAC /2 ist das ein Wagen der Klasse "2-Tier"; zwei Betten übereinander. Aamir holt die Schachtel mit Mutters Aloo mutter ki, mit Chili und Kurkuma gebratene Kartoffeln, aus der Tasche, bevor er sie an die Drahtseile unter dem Sitz kettet. Er schaut durch das verschmierte Fenster. Die Bettwäsche ist grau, die Decke kratzig, der Schlafplatz kaum breiter als seine "Times of India". Platz 17 und 18 sind vom Vierbettabteil gegenüber durch einen schmalen Flur und Vorhänge getrennt, die früher mal blau gewesen sein müssen und den Waggon sehr effizient abdunkeln. Der Teppichboden ist gezeichnet von Indiens kulinarischer Vielfalt. Das Billett kostete 1560 Rupien, umgerechnet knapp 25 Euro.
Um 8.11 Uhr verlässt der Zug Neu-Delhi, 1384 Kilometer liegen vor ihm. Ankunft in Mumbai ist 5.40 Uhr am nächsten Morgen. Genug Zeit also, um sich von Aamir, 21, erklären zu lassen, warum seine Eltern für ihn eine arrangierte Ehe planen; um mit Mister Mello, der für die Hafenbehörde arbeitet, über die Kolis zu sprechen, Mumbais letzte Fischer; oder mit Soumesh zu quatschen, einem Bodybuilder, der in Surat ein Fitnesscenter betreibt.
Aamir ist Muslim. Mister Mello ist Christ. Soumesh glaubt an Buddha Siddhartha Gautama, seine Eltern leben in einem Dorf in Westbengalen und sind Animisten. "Ohne die Eisenbahn", sagt Soumesh, "wäre die Idee unserer Nation nicht umsetzbar. Sie ist überall, sie ist für alle da, für alle bezahlbar, sie ist der große Gleichmacher, die Brücke zwischen den Kulturen." Draußen ist es längst dunkel, Rajastan liegt hinter uns.
Tags zuvor. Das Fenster Indiens? "Stimmt", sagt Sudhir Kumar, "aber ich habe eine noch spannendere Geschichte." Kumar sitzt in Raum Nummer 240, Rail Bhawan. Das Eisenbahnhaus, Sitz des Ministeriums und Geschäftszentrale von Indian Railways, ist ein V-förmiger Klotz, rostbraun wie Garam Masala, die Gewürzmischung. Kumar ist ein kleiner Mann mit hoher Stirn, der gern doziert und dabei berühmte Männer zitiert. Mal Sir Isaac Newton, mal Alan Greenspan. Und wenn es sein muss, hält er auch einen Vortrag über die Rolle der Eisenbahn in Indiens jüngerer Geschichte. Sie verkörpert die Kolonialzeit, weil gebaut von den Briten; erinnert an die schmerzhafte Teilung, als Züge Schauplatz von Massakern waren, verübt von Hindus und Sikhs an Muslimen und umgekehrt. Später war sie ein Exempel für die sozialistische Wirtschaftsdoktrin des unabhängigen Indiens. "So wie das Land sich öffnete, weil es finanziell am Ende war, öffnete sich Indian Railways, weil das Unternehmen am Ende war", sagt Kumar.
Wie fährt man eine marode Eisenbahn aus der Verlustzone? Man hängt Waggons anNach mehreren Jahren Studium hatte eine Expertengruppe im Sommer 2001 einen Bericht vorgestellt. Rakesh Mohan, heute Vizedirektor der indischen Notenbank, leitete das Gremium. Mohan prognostizierte bei 15 Milliarden Dollar Schulden und 70 Millionen Dollar Barvermögen den baldigen Konkurs, nicht zuletzt, weil 98 Prozent des Umsatzes von den Kosten gefressen wurden. "Wir litten nach Ansicht der Experten an Krebs im Endstadium", so Kumar. Die Berater empfahlen, das Personal zu reduzieren, die Pensionsverträge der staatlichen Rentenkasse zu übereignen und das Unternehmen zu privatisieren - der Klassiker aus dem Berater-Handbuch. "Doch das haben wir nicht gemacht", sagt Kumar und lehnt sich schmunzelnd in seinen Ledersessel. Er erzählt das nicht zum ersten Mal. Es gibt dazu sogar eine Broschüre. Titel: "Indian Railways - The Turnaround Story".
Auf Kumars Visitenkarte steht: "Officer on Special Duty to Minister of Railways". Der OSD, wie alle sagen. Es klingt nach weniger, als es ist. Der OSD Kumar macht die Arbeit des Ministers, was bei Lalu Prasad nicht anders zu erwarten war. Nach seiner Berufung zum Eisenbahnminister 2004 verbrachte Prasad sechs Monate in seinem Heimatstaat Bihar, wo er bis 1997 Regierungschef war. Bihar war unter seiner Ägide zu einem Synonym für Armut, Rückständigkeit und Korruption geworden. Prasad musste zurücktreten, als bei einer Landreform Milliarden von Rupien verschwanden. Begnadeter Redner und Populist, der er ist, gründete er daraufhin eine eigene Partei, Rashtriya Janata Dal, die nun Mitglied der Regierungskoalition ist.
"Wie wir es gemacht haben?", fragt der OSD. "Nun, es war einfach." Personenzüge hatten in der Regel 15, 16 Waggons. Sie wurden verlängert auf 24 Waggons. Güterzüge waren meist illegal überladen. Sie ließen sie legal überladen und kassierten, was vorher an Schmiergeldern gezahlt wurde, selbst. "Ein Personenwaggon mehr", so Kumar, "sind am Jahresende zehn Millionen Rupien extra." Ein Güterzug erwirtschafte pro Tag 650 Millionen Rupien, inzwischen seien sie pro Tour im Schnitt fünf statt acht Tage unterwegs, das mache jährlich 130 Millionen Tonnen Fracht zusätzlich. Resultat im abgelaufenen Geschäftsjahr: 19,5 Milliarden Euro Umsatz, 4 Milliarden Euro Gewinn. Nun verfügen sie angeblich über 16 Milliarden Dollar Bargeld. Kumar: "Und das ist erst der Anfang." Sie planen, private Unternehmen gegen Gebühren im Frachtgeschäft zuzulassen, Catering in Personenzügen auszulagern, Restaurants in Bahnhöfen zu vermieten. Sie wollen die Buchung übers Internet forcieren und Hotels bauen. Kumars Buch über Indian Railways wird "From Bankruptcy to Billionaire" heißen.
Wenn man das ein paar Stunden später einem energischen, älteren Herrn mit silbergrauem Haar erzählt, schüttelt der indigniert den Kopf. Satish M. Vaish wartet in der Bar des Intercontinental Hotels. Sehr gern, hatte er am Telefon gesagt, erzähle er alles über Indian Railways. Zum Treffen bringt er zwei Seiten handschriftlicher Notizen mit. Vaish: "Das System läuft heute nicht anders als vor hundert Jahren, was die neue Führung als , Turn-around' verkauft, ist primär Kosmetik." Er muss es wissen. Er war General Manager bei Indian Railways, Sekretär des siebenköpfigen Indian Railways Board, für das er stets die Agenda zusammenstellte; er hatte Einblick in die Personalakten von 11 000 leitenden Angestellten. Nach seiner Pensionierung mit 59 wurde er Mitglied einer Sicherheitskommission. Doch man hörte ihm nicht mehr zu. Er schrieb Artikel für die Zeitung. Man nahm sie nicht ernst. Und nun muss er hören, "dass Prasad ein Genie ist und alle, die vor Kumar im Amt waren, keine Ahnung hatten".
In der Bar spielt eine indische Folkloregruppe. Sitar, Tablas, das Übliche. Rabindranath Tagore schrieb einmal sinngemäß, westlichen Beobachtern erscheine Indien wie einem Tauben das Klavierspiel; das Fingerspiel könne er zwar erkennen, doch die Musik komme nicht an. Vaish sagt: "Vieles an den Railways kann man nicht schlüssig erklären, doch dass sie Gewinn machen, gehört nicht dazu." Man müsse sich doch nur das Land anschauen. Überall Wachstum. Das Land brauche Kohle, Stahl, Zement, Erz, Benzin, Kunstdünger. Die Eisenbahn sei der Motor der Wirtschaft, der Pulsschlag der Konjunktur. "Früher zahlte China sechs US-Dollar für den Transport einer Tonne Kohle, heute zahlen sie 60 US-Dollar, logisch, dass wir Riesengewinne einfahren." Die Güterzüge erwirtschaften 65 Prozent des Umsatzes von Indian Railways. Personenzüge, die 70 Prozent des Verkehrs ausmachen, erwirtschaften gerade mal ein Drittel des Umsatzes. Prasad hat dennoch die Preise für Passagiere gesenkt und will jedes Jahr 80 neue Personenzüge auf die Gleise stellen, obwohl jeder Personenzug drei Güterzüge blockiere, so Vaish. "Prasad subventioniert die Armen, damit sie ihn wählen. Er schadet mehr, als er nutzt."
Ein wenig suspekt muss einem die Story der wirtschaftlichen Wende schon vorkommen. Schließlich wimmelt es in den Jahrbüchern von Indian Railways vor geschätzten, nicht immer identischen Zahlen. Aber wie wollen sie korrekte Zahlen errechnen bei Milliarden Fahrkarten, die manuell ausgestellt und womöglich nie abgerechnet werden? Im Rail Bhawan stapeln sich meterhoch Akten auf dunklen Fluren. Catering in Personenzügen? In 104 von 9000. Neue Restaurants in Bahnhöfen? In 41 von 8000.
Und 6,8 Millionen verkaufte Tickets online per anno hört sich gut an; bei 6,2 Milliarden Passagieren entsprechen sie rund einem Prozent. Die "moderne Eisenbahn", von der Kumar schwärmt, ist weit weg. Da kann er noch so euphorisch "Bahnhöfe von Weltformat" und "Hochgeschwindigkeitszüge" ankündigen, in Indien weiß jeder, dass Bahnhöfe schnell von Slums umwuchert werden und dass das durchschnittliche Reisetempo eines Personenzugs derzeit 60 Kilometer in der Stunde selten überschreitet.
"Unser System ist überlastet und überfordert", sagt Vaish. "Wir brauchen Elektroleitungen, weil wir bei den hohen Ölpreisen Diesel bald nicht mehr bezahlen können. Wir brauchen Reparaturen, ein modernes Sicherheitssystem, und wir haben auf den meisten Strecken nur ein Gleis, maximal zwei, wir bräuchten vier. Stattdessen fahren wir mit immer mehr Zügen die Infrastruktur in Grund und Boden." Ist nicht in den nächsten fünf Jahren ein Korridor für Güterzüge zwischen Delhi, Kolkata, Chennai und Mumbai geplant? " Ja", sagt Vaish, "nur haben sie noch kein Land und vergessen, dass dafür Hunderte von Brücken um mindestens drei Meter erhöht werden müssten."
Gleich fünf Uhr abends, Churchgate Station, Mumbai. Auf Gleis 2 wird der Vorortzug VR 704 bereitgestellt, Abfahrt 17.05 Uhr. VR steht für Virar, die Endstation, 60 Kilometer nördlich von Churchgate. Noch während der Einfahrt rennt S. S. Mahilapandian los, stürzt in die offene Tür eines Waggons und ruft: "Spring wie ein Affe, sonst schaust du wie ein Esel! " Mahilapandian springt wie ein Affe, erreicht im Stile eines Ringers die Sitzbänke, zwängt sich auf den letzten freien Platz. Sekunden später stehen zwischen den Bänken Männer - Hüfte an Hüfte, Ellbogen an Ellbogen, Schulter an Schulter. Mahilapandian, ein fröhlicher Mann mit Haaren wie Wolle, fährt seit drei Jahren mit den Zügen von Western Railways zur Arbeit. Von der Haltestelle Churchgate ist es ein Spaziergang bis zu seinem Büro in Nariman Point, wo er Vize-Präsident bei TCI Telenet Solutions Pvt. Ltd. ist. Dort zieht er nach dem morgendlichen Gerangel im Zug erst mal ein frisches Hemd an. Voll beladen fährt der VR 704 ab, ächzend schaukelt er durch die erste Kurve. Das Modell des Waggons stammt noch aus der Kolonialzeit.
Western Railways ist eine von drei Regionalgesellschaften, die in und um Indiens Wirtschaftsmetropole operieren. In Mumbai sind Börse, Banken, Versicherungen, Medien- und Modebranche. Hier werden mehr Filme produziert als in Hollywood. Man schätzt die Bevölkerung auf 13, 14 Millionen, manche sagen 20 Millionen Menschen; allein in Dharavi, Asiens angeblich größtem Slum, leben rund eine Million Menschen (brand eins 01/2008). Täglich kommen Tausende hinzu. Alle in der Hoffnung auf eine lukrative Nische zwischen 10 000 Restaurants, 5000 Tempeln, Schreinen, Kirchen, Moscheen und 100 Basaren. Die meisten Jobs befinden sich im schmalen, eng bebauten Süden der Stadt, wo die Miet-und Immobilienpreise mitunter höher sind als in New York oder Schanghai. Die meisten Angestellten und Arbeiter wohnen wie Mahilapandian in den Vorstädten im Norden, Nordwesten oder in der Trabantenstadt Navi Mumbai. Western Railways befördert täglich 3,3 Millionen Menschen in 1133 Vorortzügen, insgesamt sind 6,5 bis 7 Millionen auf Mumbais Schienennetz unterwegs.
"Die Vorortzüge", sagt Shyam Sunder Gupta, Sprecher von Western Railways, "sind die Lebenslinien der Stadt." Gupta sitzt in seinem Büro, Churchgate Station, dritter Stock. Die Klimaanlage surrt, ein Ventilator rattert, draußen lärmen die Autos. Der Verkehr von Mumbai ist eine Katastrophe. Dauerinfarkt auf den Straßen, die Autos bewegen sich wie Fliegen in einem Topf Sirup. "Mit dem Zug brauche ich eine Stunde", hatte Mahilapandian erzählt, "mit dem Auto wären es dreieinhalb Stunden." Gupta mag solche Erzählungen. Er ist stolz auf seine Western Railways. Ausführlich deklamiert er Zahlen. 40 Prozent der Züge haben zwölf Waggons, der Rest neun Waggons, in den Stoßzeiten sind bis zu 5000 Menschen in einem Zug. Die Fahrt kostet für zehn Kilometer in der zweiten Klasse vier Rupien. Ein Euro sind knapp 63 Rupien. Nach dem Bombenanschlag vom 11. Juli 2006, erzählt Gupta, sei Western Railways schon vier Stunden später wieder gefahren. "Das war wichtig für die Psyche der Stadt."
" Jugaad", sagen sie in Mumbai, wir machen das schon. Beflügelt von der Begeisterung über seinen Vortrag, hat Gupta bereits den Hörer am Ohr, erzählt jemandem, ein ausländischer Reporter wolle den Kontrollraum des Train Management System sehen. Man solle alles erklären, schließlich sei die Technik "State of the Art"; danach das Stellwerk in Churchgate Station zeigen.
Eine Stunde später steht man in einem Gebäude nahe Mumbai Central vor einer Wand aus Monitoren. Darauf zucken weiße, blaue, rote, grüne, gelbe Linien, zwei Bildschirme sind kaputt. In einem kleineren Raum nebenan sitzen die Chefkontrolleure vor einem Dutzend Telefonen. Hier kommen die Anrufe der Stationswärter an, die die Bewegungen von Zügen durchgeben. Die Chefkontrolleure entscheiden, was zu tun ist: Stopp. Weiter. Längerer Halt. Es bimmelt pausenlos. State of the Art? Einer der Chefkontrolleure sagt: "Das sind nicht wir, die die Kontrolle haben, es ist der Allmächtige, Vishnu, er ist der größte Gott." Später im Stellwerk. Kabel hängen aus der Wand, die Leitungen verkrustet, jedes Teil abgegriffen. Die Technik ist von Siemens, installiert 1974.
Der Westen glaubt Indien auf dem richtigen Weg. Dabei ist die Infrastruktur des Landes noch total neben der SpurWenn die Eisenbahn das Fenster Indiens ist, dann wirft das Fragen auf. So wie Indien auf sein Wachstum schielt und dabei rund 400 Millionen Analphabeten unterschlägt; so wie das Ausland sich von IT-Boom, neuer Mittelklasse und Großkonzernen wie Tata blenden lässt, weil der den europäischen Stahlgiganten Corus und die Automobilfirma Jaguar gekauft hat, während laut Weltbank jeder dritte in Armut lebende Mensch in Indien zu Hause ist; so ist die Eisenbahn ein Paradebeispiel für die Zweiteilung des Landes.
Die Zahlen mögen imposant sein, die Prognosen optimistisch, die Welt dahinter besteht aus Flickwerk und Widerspruch. "In China war die Infrastruktur vorhanden, als das Wirtschaftswachstum anzog, in Indien ist das nicht so", sagt Amitabh Khosla vom Interessenverband Confederation of Indian Industry, "deshalb stoßen wir jetzt überall an Grenzen." Der ehemalige Indian-Railways-Manager Vaish würde den OSD Kumar gern fragen: "Warum ist unsere Fracht doppelt so teuer wie in China? Warum halten Gleise in Südafrika sechsmal länger? Wieso können 110 000 Angestellte in den USA sechsmal so viele Güter auf die Schiene bringen wie wir?"
Mahilapandian weiß davon nichts. Es interessiert ihn auch nicht. Während der Fahrt erzählt er, wie man in Stoßzeiten aussteigt: Sich zwei Stationen vorher in Position bringen, dann "wie ein Baby bei der Geburt langsam nach draußen drü cken". Jetzt steht er auf dem Bahnsteig der Station Mira Road, hinter der bereits Äcker und Wiesen beginnen, und erzählt von seinem größten Abenteuer. Es war an der Station Masjid. Er wollte auf einen Zug aufspringen, der bereits angefahren war. Er lief, lief, lief. Dabei übersah er, dass der Bahnsteig zu Ende war, stürzte, fiel auf die Gleise. Über ihm kreischten die Menschen vor Schreck, doch irgendwie gelang es ihm, sich blitzschnell neben die Schienen zu rollen. "Bachgaya", riefen die Menschen. "Er hat überlebt! " - "So ist Indien", ruft Mahilapandian begeistert, "wir wissen uns in jeder Situation zu helfen."
Der Himmel ist grau, bald wird es dunkel. Mahilapandian verabschiedet sich, wartet mehrere Züge ab, die donnernd durch die Station rasen, steigt über die Gleise, hinein in eine bunte Budenstraße. Der Trampelpfad zwischen den Buden ist vom Monsun aufgeweicht, Schlamm spritzt ihm auf Schuhe und Hose. Am nächsten Tag wird er eine E-Mail schreiben: "Können Sie sich an mich erinnern? ... Ich habe Ihnen viel Input über die Eisenbahn des Landes gegeben. ... 2020 mein Land INDIEN WIRD SEIN unter den voll entwickelten Nationen wie die USA und China. Wir sind auf dem Weg. ... Bleiben wir in Kontakt."-