- Ein Nachruf vom 24.4.2007 -
Wie kein anderer Politiker hat Boris Jelzin Russland polarisiert. Der
Riss ging durch das ganze Land, durch viele Familien und hat auch die
beiden Brüder Walodja und Serjoscha voneinander entfremdet. Eine
Familiengeschichte, die exemplarisch stehen dürfte für das Russland nach
dem Zerfall der Sowjetunion.
MOSKAU. Walodja und Serjoscha. Zwei Brüder, Anfang der 90er Jahre in Moskau. Schauspieler an einem Privattheater der eine, Ingenieur in einem Staatsbetrieb der andere, aber dennoch ein Herz und eine Seele - wenn da nicht Boris Nikolajewitsch wäre.
Die Freiheit zu reden, zu reisen und unternehmerisch zu arbeiten, die Jelzin seinem Volk per Schocktherapie Anfang 1992 verordnete, verschaffte Walodja die Luft zum Leben, die ihm so lange gefehlt hatte. Als Schauspieler in einer der ersten privatwirtschaftlichen Kooperativen kann er endlich die eigenen Stücke spielen, im Ausland auftreten und mit Gastspielen in Werbefilmen relativ viel Geld verdienen. "Wer nicht für Boris Nikolajewitsch ist, ist kein echter Russe", preist Walodja seinen Präsidenten - der als Mann aus dem Volk auftritt und mit den alten Apparatschiks ebenso wie mit dem zögerlichen Perestroika-Star Michail Gorbatschow aufräumt.
Dagegen zerfällt Serjoschas Welt. Sein Staatsbetrieb im Umfeld der Rüstungsindustrie hat kaum noch Aufträge, die finanzielle Sicherheit und der soziale Status des damals 45-Jährigen gehen den Bach hinunter. "Dein Jelzin ruiniert Russland und verkauft uns an die Amerikaner", hält Serjoscha seinem Bruder immer wieder vor.
Bei Familienfesten sitzen die beiden bald nur noch gezwungenermaßen beisammen - alles andere wäre ein Affront gegen die Familienehre. Spätestens nach den Vorspeisen und den ersten Wodka-Runden ("Auf die Gesundheit", "Auf die Frauen", Auf die Liebe") und noch vor Suppe und Hauptgang wird es aber politisch. Und unweigerlich steht Boris Jelzin im Mittelpunkt des Streits.
Beim Widerstand gegen die orthodox-kommunistischen Putschisten im August 1991 standen die Brüder noch gemeinsam auf der Seite der Demokraten - und hinter Jelzin. Doch zwei Jahren später finden sie sich auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikaden wieder. Walodja steht treu zu Jelzin, der gegen widerborstige Abgeordnete im Weißen Haus Panzer auffahren - und das Parlament tatsächlich beschießen lässt. Serjoscha dagegen steht auf Seiten der Abgeordneten, die sich Jelzins Machtanspruch und vor allem seinen brutal-liberalen Wirtschaftsreformen widersetzen.
Auch über den Tschetschenienkrieg, den Jelzin ab 1995 rücksichtslos führt, streiten sich die Brüder erbittert - doch mit verkehrten Rollen. Nun ist es Serjoscha, der Jelzin verteidigt und Walodja, der an der menschenverachtenden Politik seines politischen Idols bitter leidet. Dieser Trend setzt sich Silvester 1999 fort, als Jelzin ausgerechnet den Ex-Geheimdienstler Wladimir Putin auf den Thron hebt - der in seinen wenigen Monaten als Premier den zweiten Tschetschenien-Feldzug gestartet hatte. Serjoscha hofft auf ein Ende der Anarchie, Stabilität und ein wenig Ruhe. Damit steht er für die Mehrheit der Russen, die Jelzin einfach nur noch los werden will. "Was soll ich mit der Freiheit, davon werde ich nicht satt", bilanziert Serjoscha die Jelzin-Jahre - und Walodja widerspricht nur noch pflichtschuldig.
Am Montag, wenige Stunden nach Jelzins Tod, saßen die beiden Brüder wieder in der engen Küche von Walodjas Ein-Zimmer-Wohnung und leerten eine Flasche Wodka auf Jelzin. Bezahlt hat sie Serjoscha. Denn Walodja hat es schwer, sich über Wasser zu halten: sein traditionelles russisches Theater findet in der durchkommerzialisierten Gesellschaft kaum noch Freunde, aus der Werbebranche hat lange keiner mehr angerufen. Dagegen hat Walodja Oberwasser. Seine Rüstungsfirma ist in den Jahren unter Putin aufgeblüht, er bezieht ein sicheres Gehalt und genießt eine soziale Rundumversorgung. Fast wie früher.
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